Ukrainische Flüchtlinge warten in einer Halle, nachdem sie am Hauptbahnhof in Krakau angekommen sind, da bereits mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine nach Polen geflohen sind.
Reportage

Flucht vor Russlands Krieg In Polen wird es eng

Stand: 10.03.2022 03:07 Uhr

In Polen beginnen Gemeinden, öffentliche Einrichtungen zur Aufnahme von Menschen aus der Ukraine herzurichten. Erste Einschränkungen für die Einheimischen werden spürbar. Doch noch hält die Willkommensstimmung.

Im Begegnungszentrum St. Annaberg in Oberschlesien, einem bedeutenden Wallfahrtsort mit deutsch-polnischer Geschichte, ordnen Ukrainerinnen an Tischen Kleider, die aus einer deutschen Spende stammen. Ich bin sauer, hatte Bruder Dominik gleich zur Begrüßung gesagt: Etwa die Hälfte der Kleidungsstücke sei unbrauchbar. Er musste extra einen Müllcontainer buchen, ärgert er sich. "Bitte Pflegemittel, Kosmetika, und wenn Menschen Kleider schicken wollen, dann wirklich schöne Sachen, gewaschen und neu. Behandeln wir die Menschen mit Würde."

150 Menschen haben Zuflucht gefunden auf dem Annaberg - es sind viele Kinder darunter, und vor allem Frauen. Manche bekamen den Tipp von ihren Männern, die in der Gegend arbeiten, wie diese Frau aus dem zentral-ukrainischen Dnjepropetrowsk.

Wir sind acht Tage zu Hause geblieben und dann doch geflüchtet. Fünf Tage auf der Flucht, denn wenn es Sirenen gab, musste man anhalten, mit zwei kleinen Kindern, einmal in der Nacht, einmal den ganzen Tag. Also von Dnjepropetrowsk nach Polen drei Tage, und dann standen wir an der ukrainisch-polnischen Grenze, über 1000 Menschen in der Schlange, alle auf der Flucht, alle in Angst. An der polnischen Grenze war alles in Ordnung. Wir wurden mit den Kindern durchgelassen, gleich haben wir Essen und Trinken bekommen.

"Sie schießen einfach los"

Abgekämpft wirkt die Frau und wie in Trance, mechanisch ordnet sie die Kleider. Verwandte blieben zu Hause, sie berichteten vom Horror eines Krieges auch gegen Zivilisten: "Sie schießen einfach los, ob ein Kind, ein alter Mensch - sie schießen einfach. Man muss sich nur verstecken, das Haus nicht verlassen, nirgendwo rausgehen, nur zu Hause bleiben. Wenn du ihnen vor die Augen kommst, ist es passiert."

Kamen anfangs die meisten Flüchtlinge privat bei Verwandten unter, so tauchen jetzt immer mehr auf ohne solche Kontakte oder Fremdsprachenkenntnisse, oft nur mit den Kleidern am Leib oder einer Tüte voller Habseligkeiten in der Hand. Im Aufnahmeland Polen werden allmählich die Mühen sichtbar.

Einheimische werden eingeschränkt

Im 16.000-Einwohner-Örtchen Krapkowice - zu Deutsch: Krappitz - ganz in der Nähe gibt es eine Krisensitzung beim Bürgermeister. So tagen sie jetzt überall im Land, die Wojewoden schlugen Alarm: Es kommen jetzt doch massenhaft Menschen zu Euch, die nichts haben und alles brauchen. Der Krappitzer Bürgermeister Andrzej Kasiura sagt:

Die Flüchtlinge, die vor einigen Tagen kamen, wurden von Familien aufgenommen. Jetzt kommen sie schon in ein Sporthotel, nichts besonderes, aber anständig, dort sind fast 30 Personen untergebracht. Im Landkreis sind es schon 600, bei uns fast 200. Nun bekamen wir einen Anruf, wir sollen die Sporthalle vorbereiten für zunächst 50 Flüchtlinge, bei weiterem Ausbau der Sanitärinfrastruktur bis 200. Man sieht also, dass es beunruhigend wird. Wir sammeln Lebensmittel bei den Bewohnern, es gibt Leidenschaft und Güte, aber es wird sichtbar, dass der Umfang beunruhigende Ausmaße annimmt.

Und der Umfang beginnt, die Einheimischen einzuschränken - erst einmal die örtlichen Vereine und Schulen, die einstweilen auf Hallensport verzichten müssen. Man brauche bald Hilfen vom Staat für die Beköstigung, für Psychologen, Übersetzer, Ärzte und vieles mehr, funken Gemeinden wie Krappitz zurück an die Bezirksverwaltungen.

Sabine Gorzkulla, Vize-Landrätin in Krappitz, sagt: "Wir warten jetzt auf Entscheidungen auf der Regierungsebene zur Unterstützung dieser Menschen. Bisher müssen wir sie in unseren Rahmen betreuen. Unsere Einwohner, erfahren auch schon durch die Erfahrung des Hochwassers 1997, engagieren sich sehr."

Ein örtliches Unternehmen stellte eine Computer-Grafikerin frei, die aus der Ukraine stammt. Seither sei sie rund um die Uhr im Einsatz für die Kreisverwaltung zum Übersetzen und Organisieren, sagt Maria Studans, die selbst eine entfernte Verwandte mit ihren zwei Kindern zuhause aufgenommen hat. Die eigenen Eltern säßen im russisch besetzten Cherson fest und könnten nicht mehr weg.

Ich habe die ersten Tage ununterbrochen geweint, so gerührt war ich über die Hilfe und Menschlichkeit der Polen. Und jetzt habe ich einfach alle Tränen ausgeweint, bin hart und versuche, die Emotionen zu beherrschen. Aber die ganze ukrainische Nation ist den Polen sehr dankbar, dass sie uns eine solche einzigartige Hilfe leisten, die wir wohl nie vergelten können.

Bislang nur wenige Misstöne

Bislang schleichen sich nur manchmal Misstöne ein. Ein einflussreicher regierungsnaher Publizist verbreitete im Internet einen Redeausschnitt des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Er habe gesagt, die Ukrainer seien nie über andere hergefallen. "Leider kein Fake", schrieb der Publizist dazu. In Polen sind die Massaker von Wolhynien, als ukrainische Nationalisten im Schatten der Deutschen polnische Dorfbewohner ermordeten, präsent, in der Ukraine nicht so sehr.

Doch viel Zeit bleibt nicht für derlei Überlegungen. "Wo kann ich anpacken?", ist das Credo der Stunde. Auch viele Ukrainerinnen fragten als erstes, "Kann ich hier irgendwo arbeiten?", ist zu hören.

Und Bruder Dominik auf dem St. Annaberg überlegt, seit die vielen ukrainischen Kinder in der Begegnungsstätte anfangen, Schabernack zu treiben - etwa mit dem Lift - wo er Freiwillige herbekommt, die Unterricht geben und die Kinder betreuen könnten.

Jan Pallokat, Jan Pallokat, ARD Warschau, 10.03.2022 00:56 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 10. März 2022 um 09:26 Uhr.