Ein Blick in den speziell konstruierten Bunker, in dem die ersten Anhörungen im Ndrangheta-Prozess stattfanden. (Archiv)

Mammutprozess in Italien Urteile gegen die 'Ndrangheta-Mafia erwartet

Stand: 20.11.2023 10:11 Uhr

In Italien werden heute die Urteile in einem Mammutprozess gegen die 'Ndrangheta-Mafia gesprochen. Sie gilt als die gefährlichste und wirtschaftlich mächtigste Mafiaorganisation. Mehr als 300 Menschen sind angeklagt.

Seit Jahren engagiert sich Maria Joel Conochiella bei Libera, einem landesweiten Verein, der gegen organisierte Kriminalität kämpft. In ihrer Heimat in der süditalienischen Region Kalabrien ist sie die Provinzbeauftragte von Vibo Valentia - dort, wo der mächtige Mancuso-Clan der 'Ndrangheta zu Hause ist.

Maria erinnert sich noch heute gut an einen Tag kurz nach den großen Razzien gegen die Kriminellen, Ende 2019. Am 24. Dezember, so erzählt sie, sei die Gemeinde auf die Straße gegangen, um den Männern und Frauen der Strafverfolgungsbehörden, der Justiz und der Stadt Catanzaro unter der Leitung von Staatsanwalt Gratteri zu danken.

Das sei damals eine wichtige Botschaft gewesen. "Denn in diesem kleinen Gebiet waren wir ganz andere Bilder gewohnt. Man applaudierte dem Boss, man zeigte Ehrfurcht gegenüber dem örtlichen Obersten. Stattdessen zeigte an diesem Tag diese Gemeinschaft etwas ganz anderes", erzählt die Aktivistin.

Kampfansage des Staates gegen 'Ndrangheta

Der Staat hatte der 'Ndrangheta den Kampf angesagt. Eine maßgebliche Rolle spielte der damalige Staatsanwalt Nicola Gratteri. Er ließ nicht locker, musste stets unter Polizeischutz leben. Er schrieb auch zahlreiche Bücher, oft mit Antonio Nicaso, der weltweit als Mafia-Experte gilt. Das Kapital der 'Ndrangheta seien ihre Beziehungen.

"Die Mafia ist keine kriminelle Organisation, die nur aus gewaltbereiten Männern besteht", sagt Nicaso. "Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu halten, und die Anpassungsfähigkeit sind zwei grundlegende Merkmale." Die Mafia, so meint er, müsse in der Lage sein, als System zu funktionieren und diese Art von Beziehungen in einem Territorium zu verwalten.

So sitzen bei dem Prozess in Kalabrien nicht nur die Clanmitglieder der mächtigen Mancuso-Familie auf der Anklagebank, sondern auch Politiker, Finanzbeamte, Notare, Polizisten und Unternehmer. Die meisten waren bisher polizeilich nicht auffällig. Es sind die Handlanger, die dafür gesorgt haben, dass die 'Ndrangheta unauffällig, aber wirkungsvoll das wirtschaftliche und politische System in vielen Ländern infiltriert hat, auch in Deutschland.

Zweitgrößter Mafia-Prozess in der Geschichte

Nach Einschätzung von Nicaso, der auch als Universitätsdozent arbeitet, ist die 'Ndrangheta als einzige Mafia in der Lage, ihre Organisationsstruktur auch weit entfernt von ihren Ursprungsgebieten zu klonen. So gehe sie zum Beispiel nach Deutschland - nicht nur um zu investieren, sondern auch, um dieses typische Organisationsmodell neu zu erschaffen, das in dem Gebiet verwurzelt ist und bei dem man Beziehungen zu Menschen hat, die zwar außerhalb der Organisation stehen, aber die für ihre Machtlogik zweckmäßig sind.

Tausende Stunden wurden Zeugen seit Anfang 2021 in einem umgebauten Hochsicherheitsgerichtssaal in der kalabrischen Stadt Lamezia Terme vernommen. Für die mehr als 300 Angeklagten fordern die Staatsanwälte Strafen von insgesamt knapp 5.000 Jahren. Das macht den Mafia-Prozess zum zweitgrößten in der italienischen Geschichte.

Hinzu kommt, dass erstmals auch mehrere Mitglieder der 'Ndrangheta bereit waren auszusagen. Das wiegt schwer, denn an sich wird das Schweigegelübde in dieser Organisation streng befolgt. Die Zeugen erzählten von Einschüchterungsaktionen, bei denen Autos in Brand gesteckt, Geschäfte verwüstet oder Gegner verprügelt wurden.

Erstickende Präsenz des organisierten Verbrechens

Maria vom Verein Libera kennt den Alltag in ihrer Heimat, sie spricht von einer erstickenden Präsenz des organisierten Verbrechens, das das tägliche Leben aller beeinträchtige. Ein Ziel von Libera sei es auch, verständlich zu machen, wie stark diese Präsenz wirke. Damit, so Maria, eine positive Wut entstehen könne.

Eine Wut, die zum Handeln zwingt. Ein Staat, der eingreift. Und ein Prozess, der die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Genau deshalb sind die Urteile für viele Italienerinnen und Italiener so wichtig.

Elisabeth Pongratz, ARD Rom, tagesschau, 20.11.2023 00:34 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 20. November 2023 um 08:33 Uhr.