Der russische Präsident Wladimir Putin kommt zu einem Treffen mit Absolventen der militärischen Hochschulen des Landes im Kreml in Moskau
interview

Revolte der Gruppe Wagner "Putins Allmacht gibt es nicht"

Stand: 26.06.2023 16:36 Uhr

Putins Reaktion auf den Aufstand unter Wagner-Chef Prigoschin zeigt, dass er durchaus bereit ist, Kompromisse einzugehen, meint Russlandexpertin Sarah Pagung. Doch die Rückendeckung für Putin sei in den Eliten weiter groß.

tagesschau24: Warum hat der Chef der Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, den Marsch auf Moskau wieder abgebrochen?

Sarah Pagung: Wir müssen mutmaßen. Aus meiner Sicht gibt es zwei plausible Theorien. Zum einen, dass Prigoschin eben keine Unterstützung in den weiteren russischen Eliten und nun eingesehen hat, dass dieser Marsch auf Moskau zu nichts führen wird. Und dann diese Sicherheitsgarantien angenommen hat. Das andere ist vielleicht, dass er das, was er eigentlich wollte, bekommen hat. Und das ist eventuell eine Veränderung in der russischen Kommandostruktur.

Sarah Pagung
Zur Person

Sarah Pagung ist Programmdirektorin für Internationale Angelegenheiten bei der Körber-Stiftung. Zuvor war sie Associate Fellow bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Sie beschäftigt sich vor allem mit russischer Außen- und Sicherheits- sowie Informationspolitik.

Änderung an Führung im Verteidigungsministerium?

tagesschau24: Was meinen Sie mit der Veränderung in der russischen Kommandostruktur?

Pagung: Dieser Putsch oder dieser Aufstand, wie auch immer man das jetzt definieren möchte, ist ja von der Feindschaft zwischen Prigoschin und dem russischen Verteidigungsministerium ausgelöst worden. Prigoschin hat immer wieder gefordert, dass es dort Veränderungen gibt und die Führung des Verteidigungsministeriums immer wieder angegriffen.

Aber es ist eben auch die Frage, ob das jetzt wirklich kommen wird und ob das ein Zugeständnis ist, das Putin machen kann. Denn das wäre für ihn eine deutliche Niederlage, im Grunde genommen eine erfolgreiche Erpressung.

Sarah Pagung, Politikwissenschaftlerin Körber-Stiftung, mit einer Einschätzung zum Aufstand der Wagner-Söldner in Russland

tagesschau24, 26.06.2023 10:00 Uhr

"Zeichen der Schwäche"

tagesschau24: Putin hat ja sehr öffentlich in seiner Fernsehansprache mit harten Strafen für Prigoschin und seine Anhänger gedroht und ist dann innerhalb weniger Stunden umgekippt und hat gesagt, dass es keine Strafen geben wird. Inwiefern hat Putin damit das Gesicht verloren?

Pagung: Ich glaube, dass es ein sehr deutliches Zeichen der Schwäche nicht nur von ihm selber, sondern auch von diesem System ist. Wir haben am Samstag einen Aufstand gesehen, der sehr sichtbar war - auch für die gesamte russische Bevölkerung. Es lief im Fernsehen, alle haben drüber gesprochen. Auch heute sind die Nachrichtenseiten noch voll damit.

Putin hat Prigoschin, ohne ihn beim Namen zu nennen, sehr deutlich angegriffen, hat ihn als Verräter bezeichnet - und hat am Ende genau das nicht eingehalten: die harten Strafen, die er angedroht hatte.

Das zeigt aus meiner Sicht noch mal, dass es diese Allmacht, die ja vor allen Dingen hier in Europa Putin zugeschrieben wird, gar nicht gibt. Und dass es vielleicht nicht stimmt, dass es Putin unmöglich ist, Kompromisse einzugehen oder nachzugeben. Dass er dazu, wenn seine Macht bedroht ist, vielleicht wirklich bereit ist.

Putin war "in einem Dilemma"

tagesschau24: War es aber schlau von Putin, damit auch direkt ins Fernsehen zu gehen? Denn so haben alle Russen mitbekommen, was vorgefallen ist.

Pagung: Ich glaube, er war am Samstagmorgen, als er diese Rede gehalten hat, in einem Dilemma. Zum einen hat Prigoschin über Telegram und andere soziale Medien einen direkten Zugang zur russischen Bevölkerung, zur russischen Öffentlichkeit. Das heißt, die Geschichte war ohnehin draußen in der Welt.

Es war vollkommen klar, dass der russische Staat nicht mehr in der Lage war, das zu kontrollieren oder herunterzuspielen. Das heißt, Putin musste reagieren. Aber gleichzeitig hat er mit dieser sehr deutlichen Reaktion dem Aufstand weiter Bedeutung verliehen. Es gab wahrscheinlich für ihn in diesem Moment keine wirklich gute Lösung.

"Deutliche Probleme für das Regime"

tagesschau24: Werden jetzt die Zweifel an Putin in der russischen Bevölkerung wachsen?

Pagung: Ich glaube, dass mittel- bis langfristig genau dieser Nimbus von Putin als allmächtig, als kontrollierend in Russland wenn nicht gebrochen, dann zumindest deutlich angekratzt ist. Und dass das etwas sein wird, was dem Regime auf mittlere und lange Sicht deutliche Probleme machen wird.

Inwiefern das jetzt auch kurzfristig sichtbar sein wird, inwiefern wir eine stärkere Elitenkonkurrenz, einen Elitenkampf oder die Bildung einer Gegenelite sehen werden - das ist für mich ehrlich gesagt noch vollkommen offen, auch weil diese Ereignisse so kurzfristig, für alle so überraschend kamen.

"Rückendeckung nach wie vor groß"

tagesschau24: Wie groß ist Putins Rückendeckung im Kreml eigentlich noch?

Pagung: Wir gehen bis jetzt davon aus, dass die Rückendeckung nach wie vor groß ist. Das war auf alle Fälle der Stand bis zum Wochenende, und ich glaube auch, dass es nach wie vor der Fall ist. Sonst hätte es möglicherweise weitere Unterstützung für diesen Aufstand gegeben.

Aber wie fest sie wirklich noch ist, da sind die Fragezeichen nach diesem Wochenende deutlich größer geworden. Auch das ist noch relativ offen, weil wir in den kommenden Tagen schauen müssen: Wie äußern sich einzelne Teile der Eliten, wie verhalten sich einzelne Eliten? Wie verhält sich die staatliche Macht gegenüber bestimmten Eliten - werden wir vielleicht vermehrt Leute sehen, die jetzt vor Gericht kommen oder in irgendeiner Form verschwinden? Das alles könnten Hinweise darauf sein, wie die inner-elitären Machtkämpfe möglicherweise momentan verlaufen.

Unklar, wie Wagner-Truppen sich verhalten werden

tagesschau24: Die Wagner-Söldner sind zumindest erst mal ruhiggestellt. Was heißt das für die russische Armee? Die war ja durchaus auf die Wagner-Gruppe angewiesen.

Pagung: Die Gruppe Wagner hat wesentliche Aufgaben im russischen Krieg gegen die Ukraine übernommen. Nicht nur an stark umkämpften Stellen der Front wie beispielsweise Bachmut, sondern teilweise auch im Hinterland, weil sie zumindest in Teilen sehr gut ausgebildet ist, sehr viel Erfahrung hat und für solche Aufgaben ausgerüstet ist.

Wenn Wagner jetzt wirklich in größerem Umfang an dem Krieg nicht mehr teilnehmen sollte, ist das sicherlich ein Problem für die russische Seite. Aber auch da müssen wir zum jetzigen Zeitpunkt vorsichtig sein und schauen: Was macht die Gruppe Wagner, was machen die Truppen jetzt? Wohin gehen sie, wie verhalten sie sich? Und welche Auswirkungen haben die Ereignisse des Wochenendes auf die restliche russische Armee, also beispielsweise auf ihre Moral und auf ihre Kampfbereitschaft?

"Bisschen mehr Moral"

tagesschau24: Was bedeuten die Entwicklungen des Wochenendes für die Chancen der Ukraine im Krieg? Oder könnte es umgekehrt passieren, dass Putin sagt: Jetzt zeige ich der Welt noch mal richtig, was ich vorhabe?

Pagung: Ich glaube, trotz dieses inner-elitären Kampfes, den wir jetzt in Russland gesehen haben, teilt man die Meinung zum russischen Krieg gegen die Ukraine. Das hat Prigoschin ja auch immer wieder deutlich gemacht. Es ist ja nicht so, dass Prigoschin in irgendeiner Form ein Kriegsgegner gewesen wäre.

Er war möglicherweise nur bei einer etwas anderen Form der Kriegsführung oder der Strategie. Ich glaube nicht, dass man auf russischer Seite nachlassen wird. Das, was das jetzt vielleicht bringt, ist ein bisschen mehr Moral und Hoffnung auf ukrainischer oder auf westlicher Seite, weil sich jetzt diese Risse, diese Schwäche im russischen System zeigen. Man muss jetzt abwarten, welche Auswirkungen das auf die russische Kampfkraft an der Front haben wird.

Es besteht natürlich immer das Risiko, dass Russland weiter eskaliert, möglicherweise auch nuklear. Ich zweifle allerdings daran, dass diese Ereignisse jetzt das Risiko noch mal erhöht haben, weil es ja um einen inner-russischen Kampf geht und um einen inner-russischen Konflikt darüber, wie dieser Krieg zu führen ist.

Das Gespräch führte André Schünke, tagesschau24. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung leicht angepasst.