Ein Ermittler trägt eine Weste mit der Aufschrift «War Crimes Prosecutor» («Ankläger für Kriegsverbrechen») und beginnt damit, neben Leichen aus einem Massengrab hinter der Kirche St. Andreas Beweise für Kriegsverbrechen zu sammeln (Archivbild).

Kriegsverbrechen in der Ukraine EU-Parlament für Sondertribunal

Stand: 19.01.2023 17:49 Uhr

Mit großer Mehrheit hat das EU-Parlament ein Sondertribunal zum Krieg gegen die Ukraine gefordert. Es soll russische Kriegsverbrechen ahnden - bis hinauf zu Präsident Putin. Aber nicht alle EU-Abgeordneten sind davon überzeugt.

Die Botschaft aus Straßburg ist deutlich: Die Kriegstreiber im Kreml müssen auf die Anklagebank, denn ohne Gerechtigkeit könne es keinen Frieden geben, davon ist die überwältigende Mehrheit im Europaparlament überzeugt.

Ein Sondertribunal solle dafür sorgen, dass die politische und militärische Führung in Moskau zur Rechenschaft gezogen wird, Präsident Wladimir Putin inklusive. Auch um das Regime des belarusischen Staatschefs Alexander Lukaschenko solle sich das Gremium kümmern.

Massaker sollen geahndet werden

"Russische Kriegsverbrecher kommen nicht ungestraft davon, denn Straffreiheit für diesen Zivilisationsbruch wäre die bitterste Niederlage der Völkergemeinschaft", sagt Nicola Beer, Parlamentsvizepräsidentin und Abgeordnete der FDP.

In ihrer Erklärung erinnern die EU-Abgeordneten an die russischen Massaker in Butscha und anderen ukrainischen Städten. Tausende unschuldiger Zivilisten seien ermordet, gefoltert, sexuell missbraucht oder verschleppt worden, darunter viele Kinder.

Für den Grünen-Abgeordnete Sergeij Lagodinsky begannen die russischen Verbrechen nicht erst mit den Massakern: "Verbrechen fangen nicht an mit den Toten in Butscha, nicht mit Folterkellern in Cherson, nicht mit Filtrationslagern im Donbass. Verbrechen haben mit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine angefangen. Erst 2014, dann 2022."

Internationaler Strafgerichtshof kann Verbrechen nicht verfolgen

Für das Verfolgen von Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gibt es mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zwar schon ein Gericht. Ermittlungen gegen Russland wegen des Angriffs auf die Ukraine sind aktuell aber so gut wie unmöglich, weil Moskau die Rechtsgrundlage für das Gericht nicht unterschrieben hat.

Ein Sondertribunal könnte diese Lücke im Völkerrecht schließen, glaubt Lagodinsky. Eine Reihe von EU-Staaten unterstützt die Forderung nach einem neuen Gerichtshof, darunter die baltischen Länder, Frankreich, Polen und die Niederlande. Auch Bundesaußenministerin Baerbock ist dafür.

EU-Parlament für Sondergericht

Die Resolution, in der die EU-Parlamentarier das Tribunal fordern, wurde mit 472 zu 19 Stimmen angenommen. 33 Abgeordnete enthielten sich. Bindend ist die Resolution aber nicht.

Die EU-Kommission hatte zuletzt zurückhaltend auf Forderungen nach einem Sondergericht reagiert. Es seien "komplexe rechtliche und politische Fragen" zu klären, über die es zwischen den EU-Ländern und weiteren Partnern Diskussionsbedarf gebe, hatte EU-Justizkommissar Didier Reynders erst am Dienstag erklärt.

Kritik von AfD und irischer Linken

Kritik kommt von den Parteien am linken und am rechten Rand des europäischen Parlaments. Bernhard Zimniok von der AfD spricht von einer grundsätzlich richtigen Forderung zur falschen Zeit: "Dabei nimmt man nicht nur den Ausgang des Krieges vorweg, was ich angesichts der militärischen Entwicklung für mehr als optimistisch halte, vor allem trägt eine solche Forderung in der aktuellen Situation zu einer weiteren Eskalation der Krise bei und erschwert so eine friedliche und diplomatische Lösung des Krieges."

Der irische Linke Mick Wallace hält den Vorstoß des Parlaments für scheinheilig. Natürlich müsse Russland für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Allerdings seien NATO-Staaten mit ihren "Angriffskriegen" gegen Jugoslawien, Afghanistan, Syrien oder den Jemen ungestraft davongekommen.

Die große Mehrheit der EU-Abgeordneten sieht das allerdings ganz anders - nämlich so wie Andrius Kubilius: "Der Weg zurück zum Frieden beginnt mit der Einrichtung eines Sondertribunals", sagt der litauische Christdemokrat. "Lasst uns damit - anders als beim 'Leopard' - nicht schon wieder zu spät sein."

Stephan Ueberbach, Stephan Ueberbach, SWR Brüssel, 19.01.2023 16:49 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 19. Januar 2023 um 16:41 Uhr.