Sally Yassi, Auschwitz Überlebende aus New York

Holocaust-Überlebende in New York "Sprecht mit den Kindern"

Stand: 26.01.2020 05:21 Uhr

1,75 Millionen Juden leben in New York - es ist die größte jüdische Gemeinde außerhalb Israels. Den Holocaust überlebt haben etwa 36.000 von ihnen. Ihre Erinnerungen wollen sie mehr denn je mit den jüngeren Generationen teilen.

Von Von Miriam Braun, ARD-Studio New York

An ihre Ankunft in Auschwitz kann sich Sally Yassi noch gut erinnern: "Ich hab die Schornsteine gesehen. Und es lag ein schwerer Geruch von verbranntem Fleisch und Knochen in der Luft." Von dem Ort, geschweige denn von den Krematorien, hatte sie vorher noch nie etwas gehört. "Wir hatten keine Ahnung, was hier passieren würde, das haben wir alles erst später verstanden."

Sally ist heute 93 Jahre alt und lebt in New York City. Sie kam nach dem Ende des Krieges erst Mitte der 1950er-Jahre in die USA, schlug sich dort erst als Näherin in einer Fabrik durch, um eine Abendschule zu bezahlen. Immer wichtig in ihrem Leben: die Arbeit mit Kindern, um der jungen Generation zu lehren, was nie wieder geschehen darf.

In Auschwitz jeden Morgen zur Zählung antreten, sich nackt ausziehen, demütigen lassen und nie zu wissen, wer als nächstes in die Gaskammern geschickt werden würde - das war wochenlanger Alltag für Sally. "Wenn man den Lagerarzt Mengele bei der Morgenzählung sah, wusste man schon, das war ein schlechtes Zeichen", erinnert sie sich. Nach einigen Wochen im Lager wurde auch ihre Schwester ausgewählt und abgeführt. Sie hat sie nie wieder gesehen. "Ich wusste, dass wir dort draußen in der Aufstellung nicht losweinen durften, sonst wäre ich auch dran gewesen". Weinen konnte sie erst später in den Baracken.

Auf dem Dachboden versteckt

"Im Jahr 1942 hat der Holocaust auch uns erreicht“, sagt Sarah Lipschitz, die in der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen ist. Heute lebt die 86-Jährige in Brooklyn und ist Teil der United Jewish Organizations of Williamsburg and North Brooklyn. Sie erinnert sich, wie sie sich mit ihrer Familie im Haus ihres Onkels auf dem Dachboden versteckt hielt, als rund zehn Offiziere der Gestapo eine Razzia durchführten: "Es war ein Wunder des Himmels, dass man uns an dem Tag nicht gefunden hat". Ab da begann ihre turbulente Flucht weiter gen Osten, erst mal nach Ungarn. "In Ungarn glaubten viele Leute die Geschichten von Auschwitz noch nicht. Wir, die wir aus der Slowakei kamen, wussten was dort passiert."

In Ungarn angekommen wurden Sarahs Eltern zunächst von der Polizei abgeführt. Die damals Neunjährige blieb mit ihrer elfjährigen Schwester alleine zurück. "Meine Tante in Budapest hatte Angst, mich aufzunehmen und brachte mich zu fremden Leuten", sagt sie. Zwar durften die Eltern noch einmal zurück - wurden aber später wieder von ihren Kindern getrennt. Sarah und ihre Schwester endeten auch zusammengepfercht in einem Güterwaggon nach Auschwitz. 

So wie bei vielen anderen war es für Sally Yassy eine Aneinanderreihung von Zufällen, die ihr Überleben ermöglicht haben. Das damals 16-jährige Mädchen wurde von Auschwitz aus nach Deutschland gebracht, um dort Panzergräben auszuheben. Nach monatelanger Schwerstarbeit sollte sie von dort ins Konzentrationslager nach Bergen-Belsen gebracht werden.

Sarah Lipschitz, Auschwitz Überlebende, New York, USA

Sarah Lipschitz: Eine Aneinanderreihung von Zufällen macht ihr Überleben möglich.

Bei einem Fluchtversuch hatte sie ein Gestapo-Offizier nicht erschossen, weil Kinder unweit in einem Hof spielten. Später in Bergen-Belsen war sie zu schwach, um vergiftete Nahrung zu sich zu nehmen. Die hatten die Nazis noch ausgeteilt, als die Befreiung durch die Alliierten kurz bevor stand.

"Der Zug vor uns, der das Lager um 15 Uhr erreichte, diese Juden wurden alle sofort in die Gaskammern gebracht", erinnert sich Sarah Lipschitz. "Wir kamen um 19 Uhr an und uns haben sie am Leben gelassen." Die Alliierten hatten kurz zuvor mit den Nazis eine Abmachung getroffen: Kriegsgefangene gegen das Leben von Juden. "Wir waren die ersten Juden, die Auschwitz direkt nach unserer Ankunft wieder verlassen durften."

Von den Engländern befreit

Sie wurde ins KZ Ravensbrück gebracht und von dort später auf den Todesmarsch nach Bergen-Belsen geschickt. "Dort angekommen, war das Erste, was wir sahen, das große Schild “Abfertigungslager". Untergebracht in Baracken ohne Betten, Toiletten oder Stühle mussten die Menschen ihre Notdurft aus dem Fenster verrichten. "Ich dachte nur, warum wirft nicht endlich jemand eine Bombe auf uns ab, ich halte das nicht mehr aus." Als das Lager von den Engländern befreit wurde, war Sarah so krank, dass sie dachte, sie werde so oder so sterben. 

"Ich war gerade mal 16 Jahre alt, ich brauchte eine Mutter", erinnert sich Sally Yassy und ihr schießen die Tränen in die Augen. Zum ersten Mal nach rund 30 Minuten Interview über Flucht, Misshandlung und Vertreibung ist es dieser Gedanke, der die stolze Frau weinen lässt: "Mein ganzes Leben brauchte ich eine Mutter, jemanden den ich um Rat fragen kann. Jemanden, der mich umarmt, der mich unterstützt wenn ich weine. Aber das hatte ich nie." Neben dem Schmerz des Erlebten ließen sie auch die Folgen für ihr gesamtes Leben, dass sie ohne Familie verbringen musste, nie wieder los. Sie alle sind im Holocaust umgekommen.

Sarah Lipschitz zog mit den wenigen verbliebenen in ihrer Familie nach dem Krieg zunächst nach Salzburg und wartete etwa zwei Jahre auf ihr Visum für die USA. New York erreichte sie 1951 per Schiff, dort lebt die 86-Jährige seither. Beide Frauen sind besorgt über die gespaltene Stimmung im eigenen Land und rund um den Globus. "Mir ist wichtig deutlich zu sagen: Vergesst nicht, was damals passiert ist", sagt Sally. Es könne wieder passieren, nicht nur in Deutschland oder in Polen, überall. "Sprecht mit den Kindern, denn sie sind unsere Zukunft."

"Wir konnten uns nie wirklich befreien"

Auch in New York City hatte es zuletzt einen Anstieg von antisemitischen Straftaten gegeben. Sarah hat Angst, sie wünscht sich, dass ihre Kinder und Enkel weiter in Frieden leben können: "Wir konnten uns nie wirklich befreien, von dem, was passiert ist. Ich habe bis heute Albträume", sagt sie. "Eine solche Erfahrung schüttelt man nicht ab, ich mache nur die Augen kurz zu - und sofort ist alles wieder da."

Mitarbeit: Renee Silverman

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 25. Januar 2020 um 07:51 Uhr.