Armenische Soldaten an einem Checkpoint

Krieg um Bergkarabach Wenn aus Hass Verbrechen werden

Stand: 11.12.2020 18:58 Uhr

Jahrzehntelange Verbreitung von Hasspropaganda und Verschwörungstheorien, kaum Aufarbeitung früherer Verbrechen in Armenien und Aserbaidschan - daraus folgten Kriegsverbrechen von größter Grausamkeit.

Um Kriege weniger unmenschlich zu machen, wurde einst die Genfer Konvention entwickelt. Die Regeln sollen zumindest jene vor Gewalt schützen, die nicht oder nicht mehr am Krieg beteiligt sind: Zivilisten, Verletzte und Gefangene. Es sind weltweit anerkannte Regeln - alle Staaten der Erde sind der Konvention beigetreten.

Jedoch wurde sie im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan mehrfach gebrochen. Seit Beginn des Waffenstillstandes vor vier Wochen wird die Dimension der Grausamkeit noch deutlicher, als in den Wochen zuvor schon zu befürchten war. Seitdem kehren die Soldaten aus den Kampfgebieten zurück und haben wieder Zugang zum Internet. Was an Videos in Messengerdiensten wie Telegram gepostet und über Plattformen wie Twitter verbreitet wird, zeigt nicht nur Kampfszenen und zerstörtes Kriegsgerät des Gegners. Mehrfach finden sich Aufnahmen von schweren Misshandlungen gefangener Soldaten und Zivilisten auf beiden Seiten.

Ein Anfang der Woche gepostetes Video zeigt einen Soldaten in aserbaidschanischer Uniform, der einem alten Mann armenischer Herkunft die Kehle durchschneidet, während er noch um Gnade fleht. Auf einem früher erschienenen Video ist ein jüngerer Armenier in ähnlicher Lage zu sehen, auch er wird von aserbaidschanischen Soldaten enthauptet.

Aufnahmen misshandelter Aserbaidschaner gibt es ebenfalls. In einem Video sticht eine armenisch sprechende Person einem am Boden liegenden Grenzsoldaten aus Aserbaidschan ein Messer in die Kehle. Auf anderen Bildern werden die Körper Toter geschändet. Diese und weitere Aufnahmen lösten Schockwellen in den sozialen Medien aus. Viele berichteten, wie sie die Bilder verfolgen und äußern neuen Hass.

Humanitäres Völkerrecht mit Füßen getreten

Nach der Sichtung von 22 Videos, die in den vergangenen drei Wochen veröffentlicht wurden, teilte Amnesty International (AI) mit: "Während der jüngsten Kämpfe in Bergkarabach haben sich Militärangehörige auf beiden Seiten abscheulich verhalten und dabei eine völlige Missachtung der Kriegsregeln gezeigt", sagte Denis Krivosheev, AI-Forschungsdirektor für Osteuropa und Zentralasien. Die in den Videos zu sehende Niedertracht und der Mangel an Menschlichkeit zeigten die Absicht, den Opfern äußersten Schaden und Demütigung zuzufügen. Dies verletze klar humanitäres Völkerrecht.

Amnesty fordert von den Behörden in Armenien und Aserbaidschan, unverzüglich unabhängige Untersuchungen durchzuführen. Die Täter und ihre Vorgesetzten müssten vor Gericht gestellt werden. Die Generalstaatsanwaltschaft von Aserbaidschan hatte schon Untersuchungen angekündigt. In Armenien gab es bislang keine Entscheidung dazu.

In den sozialen Medien werden auch Forderungen nach einem internationalen Gericht geäußert. Der internationale Strafgerichtshof kann tätig werden, wenn nationale Gerichte nicht in der Lage oder willens sind, mutmaßliche Kriegsverbrechen zu untersuchen und zu ahnden. Menschen in Armenien und Aserbaidschan beklagen, die Verbrechen der anderen Seite fänden keine internationale Beachtung und Ächtung. Für einen Erfolg internationalen Engagements in dem Konflikt ist jedoch Bereitschaft in beiden Ländern notwendig, nicht allein Forderungen an den Gegner zu stellen. Die sinkende Bereitschaft dazu ließ in den vergangenen Jahren bereits die internationalen Vermittlungsversuche im Rahmen der OSZE ins Leere laufen.

Sicherheit auf Kosten der anderen

Doch wie lassen sich solch grausame Taten erklären, zu denen sich offenbar reguläre Soldaten legitimiert sahen, womöglich mit Billigung der Vorgesetzten? Anders als beispielsweise in der Ostukraine dauert der Konflikt länger als 100 Jahre an. Die Wahrnehmung der gemeinsamen Geschichte während der vergangenen Jahrhunderte geht so weit auseinander, dass sich so gut wie keine Übereinstimmung findet - außer in dem Glauben, von äußeren Mächten manipuliert zu werden.

Bislang kaum aufgearbeitet sind die Ursachen von Pogromen, begangen um den Beginn des 20. Jahrhunderts und zum Ende der Sowjetunion, die Vertreibung und Kriegsverbrechen während des Krieges um Bergkarabach zu Beginn der 1990er-Jahre, die Zerstörung von Gotteshäusern, Grabsteinen und Kulturgütern. Die Standorte religiöser und kultureller Stätten sowie (vermeintliche) Nachweise über das Leben von Vorfahren in der Region werden genutzt, um Ansprüche auf Territorium zu erheben und damit das Recht der anderen Ethnie auf ihre Anwesenheit in Frage zu stellen. Das führte auf beiden Seiten zu Existenzängsten - in Armenien potenziert durch das Trauma des Völkermords von 1915, den der westliche Nachbar Türkei bis heute nicht anerkennt.

Innenpolitisch nutzten die Führungen beider Staaten den Konflikt, um von Problemen abzulenken. Präsident Ilham Alijew forcierte seine aggressive Rhetorik gegenüber Armenien in den vergangenen Jahren erheblich, so entstand ein Erwartungs- und Handlungsdruck. In Armenien hielt man sich hingegen an der Illusion fest, überlegen und unbesiegbar zu sein.

Auch wenn es auf beiden Seiten Stimmen gibt, die nach Aufarbeitung und Dialog rufen, lassen die Führungen der Konfliktparteien bislang keinen Willen zu wirklicher Versöhnung erkennen. Bei einer Siegesparade am Donnerstag sprach Alijew in Anwesenheit seines Verbündeten, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, von "historischem Land" auf armenischem Territorium. Interpretiert wurde dies als weiteres Expansionsstreben Aserbaidschans und der Türkei.