Protestierende bei einer Demonstration gegen Präsident Kais Saied in Tunis am 15. Oktober 2022.
Weltspiegel

Tunesien vor der Wahl Wenig übrig vom arabischen Frühling

Stand: 11.12.2022 09:56 Uhr

In Tunesien begann der arabische Frühling, es folgten demokratische Reformen. Aber dann drehte der tunesische Präsident das Reformrad zurück. Vor der Parlamentswahl überwiegt ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Jeden Samstag kommt Majdedine Badri an einem Denkmal vorbei, wenn er frühmorgens seinen schweren, mit Gemüse beladenen Wagen zum Souk, dem Markt, schiebt. Ein aus Stein gemeißelter Wagen, ganz ähnlich dem von Badri, erinnert an Mohamed Bouzizi, der sich auf dieser Straße aus wirtschaftlicher Verzweiflung selbst anzündete und damit eine riesige Protestbewegung auslöste.

Badri war damals zehn, und er war Augenzeuge der Selbstverbrennung. Was heute vom Aufbegehren übrig ist: Ernüchterung. Badri, jetzt 21, verkauft einmal pro Woche Gemüse, Tageseinkommen etwa fünf Euro, das ist auch in Tunesien wenig.

"Heute ist alles teuer: Kleidung, Essen, Studium, alles. Wenn ich wählen könnte zwischen der Zeit vor und nach der Revolution, würde ich mich für die Zeit davor entscheiden." Bittere Worte, denn vor der tunesischen Revolution wurde das Land von einem autokratischen Präsidenten geführt: Ben Ali war 23 Jahre lang an der Macht, bis ihn das Volk 2011 stürzte.

Desolate Wirtschaftslage

Es ist die desolate Wirtschaftslage, die manchen die Zeit vor der Revolution verklären lässt. Auf dem Markt in Sidi Bouzid ist die Armut an jedem x-beliebigen Gemüsestand greifbar. Dass das Land kurz vor einer Parlamentswahl steht, ist nicht zu sehen, Wahlplakate oder Infostände gibt es nicht.

Statt über Demokratie reden die Menschen darüber, wie die Familie über die Runden kommt. Viele wollen nicht wählen gehen. Und wenn sie gehen, dann ohne Hoffnung auf Veränderungen.

Caroline Schmidt analysiert in Tunis bei der Konrad-Adenauer-Stiftung die Lage in Tunesien. Die Bevölkerung leide unter der steigenden Inflation, die bald die Zehn-Prozent-Marke erreichen könnte und damit einen Höchststand seit 40 Jahren: teure Lebensmittel, steigende Energiekosten - vier Spritpreis-Erhöhungen gab es allein in diesem Jahr.

"Viel Frust in der Bevölkerung"

"Das sorgt für viel Frust in der Bevölkerung. Das hängt damit zusammen, dass alle, die seit der neuen Verfassung an der Macht waren, nicht wirklich die Veränderung herbeigeführt haben, die sich die Bevölkerung gewünscht hätte, vor allem auf wirtschaftlicher Ebene", erklärt Schmidt:

Die Menschen haben den Eindruck, alles habe sich verschlechtert. Deshalb hat sich hier eine Art Mentalität eingestellt, dass die Menschen frustriert sind und keinerlei Hoffnung in politische Parteien oder diese Art der repräsentativen Demokratie haben.

Der Präsident weitet eigene Macht aus

Tunesien vor der Wahl

Kristina Böker, SWR, Weltspiegel

Und dann ist da noch der aktuelle Präsident Kais Saied, 2019 gewählt als eine Art Hoffnungsträger jenseits des Polit-Establishments. 2021 löste er kurzerhand das Parlament auf. Dieses Jahr nutzte er die Macht des Präsidenten vor allem dafür, sie noch größer zu machen.

Auch wenn sich nur 31 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, stimmten im Juli beim Verfassungsreferendum laut Wahlkommission 96 Prozent der Wähler für Saieds Entwurf: Dieser soll zwar mehr Basisdemokratie ermöglichen, sichert aber vor allem dem Präsidenten Rechte zu. Nun kann er das Parlament auflösen und die Regierung sowie Richter ernennen und entlassen.

Demokratie in Gefahr?

Gegen diese Machtkonzentration und gegen die Wirtschaftskrise gingen im Herbst Demonstrierende in der Hauptstadt Tunis auf die Straße. Dazu aufgerufen hatte die Opposition, die das Referendum boykottiert hatte und auch zum Boykott der anstehenden Wahl aufruft. Ein Präsident mit zu viel Macht, ohne funktionierendes Kontrollorgan - Experten sehen die junge tunesische Demokratie in Gefahr.

Caroline Schmidt beobachtet bei den Menschen in Tunesien derzeit Ratlosigkeit und wenig Hoffnung auf Veränderung: "Es gibt im Moment keine Partei, der es gelingt, Massen zu mobilisieren. Und die Parteien schaffen es auch nicht, sich für bestimmte Inhalte oder Programme zusammen zu schließen, die das Land dann voranbringen könnten."

Kaum Perspektiven in Tunesien

Hoffnungslosigkeit steht auch Majdedine Badri, dem Gemüseverkäufer, auf die Stirn geschrieben. Seinen Freunden, mit denen er sich mangels Arbeit fast jeden Tag im Café trifft, gehe es auch nicht anders. In Tunesien sehen die jungen Männer kaum Perspektiven.

Viele Menschen in Tunesien haben kaum Hoffnung in Sicht

Kristina Böker, SWR, Weltspiegel 18:30 Uhr

Badri hat schon zwei gescheiterte Versuche hinter sich, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Wenn er die nötigen 1300 Euro erneut zusammen bekäme, würde er es wieder versuchen, wie viele hier. "Ich liebe Tunesien", sagt er - und: "Ich möchte in diesem Land begraben werden. Aber ich will mich weiterbilden, ich will etwas erreichen, ich will nicht arm bleiben."

Badri und seine Freunde wollen nicht wählen gehen, es werde sich ohnehin nichts ändern. Tunesien, es ist ein Land, in dem sich der arabische Frühling gerade wie Herbst anfühlt.

Über dieses Thema berichtet das Erste am Sonntag, 11. Dezember 2022 um 18.30 Uhr im "Weltspiegel".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtet das Erste am 11. Dezember 2022 um 18:30 Uhr im "Weltspiegel".