
10. Todestag Gaddafis Das verworrene Erbe eines Despoten
Er finanzierte Terror, wurde vom Westen hofiert - und starb 2011 auf der Flucht: Gaddafis bizarres Gebaren als Herrscher Libyens polarisiert auch zehn Jahre nach seinem Tod. Nun will sein Sohn wohl an die Macht.
Sie erwischten ihn in einem Tunnel, zusammengekauert und blutüberströmt. Einer der Kämpfer rief sofort Anwar Suwan an: "Sie erzählten mir, dass Muammar al-Gaddafi Angst hatte, zitterte, eine Pistole in seiner Hand hielt." Der Langzeitherrscher Libyens habe sie dann gefragt: "Was stimmt denn nicht, meine Söhne?" Die Kämpfer hätten ihm die Pistole abgenommen und ihn auf die Ladefläche eines Kleinlasters gelegt, erzählt Suwan. Doch auf dem Weg von Sirte nach Misrata sei Gaddafi gestorben, an den Folgen eines Granatsplitters am Kopf, wie ein Arzt später festgestellt habe.
Für Suwan sind die Kämpfer Helden. Der vermögende Geschäftsmann aus Misrata versorgte die Milizen seinerzeit mit Geld und Waffen für den Kampf gegen Gaddafi. Dessen Tod war für ihn ein Triumph. Die schillernde Karriere des exzentrischen Despoten endete in seiner Geburtsstadt Qasr Abu Hadi, dorthin war er aus der Hauptstadt geflohen. "Er wollte vermeiden, dass Tripolis zerstört wird", sagt Ahmad Gaddaf al-Dam. Über Jahrzehnte war Gaddafis Cousin wohl sein engster Vertrauter, der Sondergesandter für heikle Aufgaben. Im letzten Telefonat habe er ihm gesagt: "Ich bin doch nicht Nero und werde nicht zulassen, dass Tripolis verbrannt wird."

Er trat gern in bunten Roben auf und nannte sich "König von Afrika": Gaddafi bei einer Sitzung der Afrikanischen Union 2009.
Europas Regierungschefs umgarnten Gaddafi
42 Jahre lang war Gaddafi uneingeschränkter Herrscher Libyens. Er liebte bizarre Auftritte, erklärte sich zum König von Afrika. Mit Milliarden aus dem Ölgeschäft finanzierte er Terror und Milizen in der ganzen Welt. Die Anschläge auf die Berliner Diskothek "La Belle" 1986 und das Pan-Am-Flugzeug über dem schottischen Lockerbie zwei Jahre später werden ihm zugeschrieben. Nachdem er in den 1990er-Jahren Entschädigung gezahlt und der Atombombe abgeschworen hatte, wurde er von westlichen Regierungschefs umgarnt.
Gaddafi traf die wichtigsten Regierungschefs Europas: Tony Blair, Silvio Berlusconi, Gerhard Schröder, nicht zuletzt Nicolas Sarkozy. Im eigenen Land herrschte er mit eiserner Hand, wollte sich mit kostenlosen Schulen, Universitäten und Kliniken die Gunst der Libyer erkaufen.

Gaddafi hofierte Europas Staats- und Regierungschefs - die reichten ihm die Hand, wie Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy 2007.
Konfrontation mit der NATO - "ein Fehler"
"Ich bin stolz, dass ich eine Ära erleben durfte, als Libyen den Kontinent anführte. Sie war ruhmreich", sagt sein Cousin Gaddaf al Dam dazu. Er lebt heute in einer opulenten Wohnung in Kairo, schreibt an einer Autobiographie und engagiert sich in einer Partei, die bei den nächsten Parlamentswahlen in Libyen antreten will. Als sich 2011 im Osten des Landes Tausende Menschen erhoben, kehrte er seiner Heimat den Rücken. Gaddafi wollte den Aufstand im Keim ersticken. Die Demonstranten bezeichnete er als Kakerlaken. Er schickte die Armee, ließ auf sie schießen.
Dann aber griff die NATO ein. Dem Dauerbombardement der Kampfjets konnten Gaddafis Einheiten auf Dauer nichts entgegensetzen. Das zu unterschätzen, war sein Verhängnis, meint Gaddaf: "Wir haben es für einen Fehler gehalten, eine Konfrontation mit der NATO einzugehen. Er hielt es für ruhmreich. Das Ergebnis war vorhersehbar."
Nach Gaddafis Tod nahm Anwar Suwan dessen Leiche an sich. Ein Gerichtsmediziner nahm eine Probe seiner Haare, Knochen, Zähne. In seinem Haus stellte er den toten Ex-Despoten tagelang aus. Vor der Bestattung bewahrte er ihn in einem Kühlschrank für Gemüse auf. Wo Gaddafi begraben wurde, bleibt sein Geheimnis. "Er fuhr zur Hölle", meint Suwan lakonisch.
Jagd auf Gaddafis Milliarden begann sofort
Nach dem Ende der Ära Gaddafi 2011 begann die Jagd nach seinen Milliarden. Libyens neue Regierung beauftragte Mohammed Ali Abdallah mit der Suche. Um Hunderte Milliarden Euro soll es gehen - geparkt in einem undurchschaubaren Geflecht von Strohmännern und Firmen auf der ganzen Welt. "Entweder wollte er das Geld verbergen oder es illegal verwenden, etwa um seine Terroraktivitäten zu finanzieren. Er und seine Regierung wollten damit offiziell nicht in Verbindung gebracht werden", sagt Abdallah.
Eine Spur führte nach Südafrika. Gaddafi soll noch kurz vor seiner Flucht aus Tripolis reichlich Bargeld und Goldbarren dorthin ausgeflogen haben. Medienberichten zufolge soll der damalige Staatspräsident Jakob Zuma das Vermögen in einem Bunker seines Heimatdorfs versteckt und später nach Swasiland verfrachtet haben. Hier verliert sich dann die Spur. "Wir haben definitiv Beweise, dass 2011 Geld nach Südafrika geflossen ist. Das konnten wir nachvollziehen", sagt Abdallah. Doch anders als in anderen Ländern konnten die Fahnder die Vermögenswerte nie sicherstellen. Ein Teil werde wohl für immer verschwunden bleiben, meint er.
Kämpfe und Wirtschaftskrise
In den Folgejahren versank Libyen im Chaos. Rivalisierende Milizen bekriegen sich bis heute. Die Infrastruktur ist verfallen, die Wirtschaft brach ein. Libyens Küste ist ein Eldorado für Schlepper und Schleuser geworden. Tausende Migranten flohen nach Europa. Ausländische Mächte intervenierten. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Russland unterstützten General Haftar im Osten des Landes, die Türkei die international anerkannte Regierung in Tripolis.
Wohl auch deshalb sehnen sich nicht wenige zurück nach den alten Zeiten unter dem schillernden Despoten. "Es ist nach all der Zerstörung in Libyen doch wohl klar, dass Gaddafi Recht hatte", meint sein Cousin Gaddaf al Dam. Die Situation im Land sei miserabel. Die Libyer müssten heute betteln. Auch nach einem Waffenstillstand und der Einigung auf eine Einheitsregierung brodelt es im Land.
Gaddafis Sohn als neuer Hoffnungsträger
Im Dezember soll in Libyen ein neuer Präsident gewählt werden. Bis heute ist das Wahlgesetz umstritten. Ausgerechnet Gaddafis Sohn Seif Islam gilt nun als Hoffnungsträger, der von einem Gericht in Tripolis in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen verurteilt wurde und in der Stadt Zintan unter dem Schutz einer Miliz steht.
Bei den Präsidentschaftswahlen will der 49-Jährige wohl antreten. Die Rückendeckung von Gaddaf al Dam ist ihm sicher: "Er hat jedes Recht, bei den Wahlen anzutreten", meint er. "Bislang hat er es noch nicht bekannt gegeben. Aber die Libyer verlangen es."
Offenbar wollen sie so die Ehre der Familie wiederherstellen. Zehn Jahre nach dem Tod des Langzeitherrschers wäre das eine skurrile Wende in einer unglaublichen Geschichte.