Ciani-Sophia Hoeder und Thomas Kessler

Robbers-Cave-Experiment Wie Kinder zu Rivalen gemacht wurden

Stand: 25.10.2023 06:29 Uhr

Es gilt als Meilenstein in der Konfliktforschung: Beim Robbers-Cave-Experiment machten Forschende 22 Jungen 1954 zunächst zu Feinden - und versuchten anschließend, sie wieder zu versöhnen. Welche Erkenntnisse sind geblieben?

Von Von Sylke Blume, WDR

Warum geraten Menschen immer wieder in Konflikte miteinander? Und wie können sie diese wieder lösen? Diese Frage war in den 1950er-Jahren Hauptbestandteil der Forschung des US-Sozialpsychologen Muzafer Sherif. Der Wissenschaftler wollte in einem Experiment beweisen, dass Kinder in einer Konkurrenzsituation innerhalb kürzester Zeit aggressiv werden - und ermöglichte damit grundlegende Einsichten in die Psychologie von Gruppenkonflikten.

Sherif hatte in der Türkei eine von Konflikten bestimmte Jugend erlebt, die ihn maßgeblich prägte. Er widmete sein Leben der Frage, wie verschiedene soziale Gruppen friedlich miteinander leben können und wie Konflikte entstehen.

Ort des Experiments: Robbers Cave State Park in Oklahoma

Das Experiment fand im abgelegenen Robbers Cave State Park im US-Bundesstaat Oklahoma statt, in Form eines dreiwöchigen Sommercamps. Der Archivnachlass von Muzafer Sherif gibt Einblick in die Planung und Durchführung des Experiments. Man bemühte sich um eine homogene Auswahl der 22 teilnehmenden Jungen: alle ungefähr gleich alt, gleich groß, aus ähnlichem Milieu. Familiäre Probleme oder Scheidungen wurden als disqualifizierend betrachtet.

Sherif wollte sicherstellen, dass persönliche Unterschiede die Gruppenbildung nicht beeinflussen würden. Die Kinder wurden in zwei Gruppen eingeteilt: die Eagles, die Adler, und die Rattlers, die Klapperschlangen. Das Experiment gliederte sich in drei Phasen. In Stufe eins lernten sich die Jungen kennen - aber jede Gruppe für sich, ohne aufeinanderzutreffen.

Eskalation des Konflikts in Phase zwei

In der Konfliktphase heizten die Forschenden die Rivalität zwischen den Gruppen an. Wettbewerbe wurden gezielt manipuliert und ungerecht bewertet, Feindseligkeiten provoziert. Es wurden Sportwettkämpfe um Taschenmesser als begrenzte Ressource veranstaltet. Der Konflikt zwischen den Gruppen eskalierte schließlich dramatisch. Schnell kam es zu einer Veränderung der Jungen von harmlosen Teilnehmern zu aggressiven Rivalen. Prügeleien, Flaggenverbrennungen und Überfälle waren die erschreckenden Höhepunkte.

In Phase drei präsentierten die Forschenden den Jungen übergeordnete Probleme, die nur gemeinsam gelöst werden konnten. Der Mangel an Frischwasser wurde zur Herausforderung für beide Gruppen. Das gemeinsame Lösen des Problems führte zum Abbau der Feindseligkeiten und einem erstaunlichen Wandel der Gruppenidentitäten.

Es fehlte ein ethisches Regelwerk

Thomas Kessler, deutscher Konfliktforscher, betont die fortdauernde Relevanz des Experiments: "Robbers Cave ist nach wie vor eines der klassischen Experimente. Wenn es um Inter-Gruppen-Konflikte geht, gilt dieses Experiment als der Standard." Er betont zugleich, dass solche Studien heute so nicht mehr durchgeführt werden könnten. Doch damals gab es noch kein ethisches Regelwerk.

Erst 1974 - 20 Jahre nach Robbers Cave - erließ die American Psychological Association den sogenannten National Research Act: klare ethische Regeln, was Forschende bei Experimenten dürfen und was nicht - insbesondere, wenn sie mit Minderjährigen arbeiten.

Rolle der Forschenden war komplex

Stephen Reicher, Experte für Sozialexperimente, hebt hervor, dass Sherif als einer der Ersten Gruppen statt Einzelne analysierte. Dabei war die Rolle der Forschenden komplex: Sherif selbst agierte als Hausmeister, Forschende waren Betreuende, Beobachtende und zugleich Initiatoren der Konflikte. Durch ihre Doppelrolle befanden sie sich in einem ethischen Dilemma. Die Grenze zwischen Anleitung und neutraler Beobachtung war schwer zu ziehen.

Mustafer Sherif stand diesbezüglich in engem Austausch mit seiner Ehefrau Carolyn Wood Sherif. Die Sozialpsychologin hat maßgeblich an der Konfliktforschung und der Studie mitgewirkt. Die ethischen Aspekte des Robbers-Cave-Experiments werden heute kritisch betrachtet. Die Manipulation und Inszenierung von Konflikten, insbesondere bei Minderjährigen, wirft ernsthafte Fragen auf.

Zeitzeuge Smut Smith erinnert sich an positive Erlebnisse, die er in dem Sommerlager als Junge hatte, aber auch an den Höhepunkt des Konflikts: "Sie wollten die Hütte abfackeln!" Wie alle anderen Kinder hatte er keine Kenntnis vom Experiment selbst. Erst 60 Jahre später erfuhr er, dass er damals zu Forschungszwecken manipuliert und beobachtet wurde.

Ciani-Sophia Hoeder und Smut Smith

Die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder mit dem Zeitzeugen Smut Smith. Er erfuhr erst 60 Jahre später, dass er 1954 im Feriencamp manipuliert wurde.

Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte

Trotz der ethischen Problematik gilt das Robbers-Cave-Experiment als Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte, als Pionierprojekt, das grundlegende Einsichten in die Psychologie von Gruppenkonflikten ermöglichte. Die Phasen des Experiments - Konfrontation, Konflikt und schließlich Kooperation - spiegeln oft reale Weltgeschehnisse wider.

Forschende weltweit beziehen sich auf die Erkenntnisse, wenn sie Mechanismen von Vorurteilen und Konflikten in der Gesellschaft verstehen wollen.

Heute wird die Erforschung von Gruppenverhalten, Konflikten und Kooperationen in kontrollierteren Umgebungen durchgeführt, um Schäden und ethische Dilemmata zu minimieren. Neue Erkenntnisse fließen in Bereiche wie Organisationspsychologie, interkulturelle Studien und Friedensforschung ein.

"Art und Weise kann kritisiert werden"

Die Journalistin Cinani-Sophia Hoeder hat das Experiment für eine ARD-Dokumentation durchleuchtet und bilanziert:

Eigentlich ist es ganz einfach. Damit Gruppen in Frieden miteinander leben können, hilft ein gemeinsames Ziel. Und das hat Muzafer Sherif in seinem Experiment ausprobiert: ein Ziel, das nur durch Zusammenarbeit erreicht werden konnte. Die Art und Weise, wie Muzafer Sherif das Robbers-Cave-Experiment durchgeführt hat, kann durchaus kritisiert werden. Aber er hat auch gezeigt: Wenn beide Seiten sich darauf einlassen, kann es einen Weg aus Konflikten heraus geben.

Das Robbers-Cave-Experiment ist Thema in der ARD-Wissen-Dokumentation "Legendäre Experimente - Robbers Cave", zu sehen am 25. Oktober 2023 um 22:50 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der "ARD-Wissen-Doku" am 25. Oktober 2023 um 22:50 Uhr.