Der Hauptsitz Unternehmens Biontech in Mainz.
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Hauptversammlung bei BioNTech Das Ende der Goldgräberstimmung

Stand: 25.05.2023 14:14 Uhr

Die Milliardengewinne von BioNTech sind erstmal Vergangenheit. Der Pharmahersteller, Anleger und auch die Stadt Mainz müssen mit dem Alltag klarkommen. Das Unternehmen hat damit offenbar die wenigsten Probleme.

Wie sagt ein Unternehmen seinen Investoren, dass der Umsatz in einem Jahr um 80 Prozent eingebrochen ist? Indem es ihnen von erfolgversprechenden Zukunftsplänen erzählt. Ja, BioNTech hat mit der Corona-Pandemie das bislang beste Geschäft seit Bestehen des Unternehmens gemacht, aber dabei dürfte immer klar gewesen sein, dass das ein zwar gewaltiger, aber vorübergehender Geldsegen gewesen sein würde.

Anfang Mai erklärte die Weltgesundheitsorganisation den internationalen Gesundheitsnotstand durch die Corona-Pandemie für beendet. Es dürfte also niemanden überrascht haben, dass Hersteller von Corona-Impfungen plötzlich weniger Geld verdienen: nach 3,7 Milliarden Euro im ersten Quartal 2022 im gleichen Zeitraum ein Jahr später nur noch 500 Millionen. Das hatte auch an der Börse Auswirkungen. Nicht so deutlich wie der Gewinn, aber für Anleger sehr heftig, stürzte die BioNTech-Aktie in die Tiefe. Wer beim Höchststand von 326 Euro gekauft hatte, hat aktuell bei 98 Euro nur noch knapp ein Drittel seines Investments im Depot.

Zurück zu den Wurzeln

Für die Zeit nach der Corona-Ausnahmesituation hat das Mainzer Unternehmen zahlreiche Säulen, auf dem das Geschäft stabilisiert werden soll. Einige dieser Säulen gab es schon lange vor der Pandemie. So kehrt BioNTech zurück zu dem, worauf sich die Forscher schon vor Corona konzentriert hatten und nennt 2023 ein Übergangsjahr. Denn während BioNTech erst durch die Pandemie in der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, geht die Unternehmensgründung viel weiter zurück: Ugur Shahin, Özlem Türeci und Christoph Huber gründeten BioNTech schon 2008, und seit dieser Zeit entwickeln die Mediziner individualisierte Krebsimmuntherapien.

Forschungszweig mRNA

Ihre Impfungen und Medikamente basieren auf Ribonukleinsäure (RNA). Die sogenannte Boten-RNA (mRNA) soll das Immunsystem dazu befähigen, gegen Gendefekte vorzugehen, wie sie bei Tumoren auftreten. Rolf Hömke, Forschungssprecher vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VfA), erklärt es so: "Krebszellen haben Genmutationen, durch die einige ihrer Proteine anders aussehen als die von gesunden Zellen. Im Normalfall bemerkt das Immunsystem diese veränderten Proteine von allein und tötet die betreffenden Zellen ab, bevor es viele von ihnen gibt. Bei Menschen mit Krebs hat das Immunsystem sie aber 'übersehen'".

Individualisierte Wirkstoffe trügen mRNA für diese veränderten Proteine, die individuell aus Krebszellen des Erkrankten stammen, so Hömke. Die Boten-RNA sorge dafür, dass der Körper mehr dieser veränderten Proteine herstelle. Das Immunsystem bemerke das und werde so aktiviert, gegen alles vorzugehen, was diese veränderten Proteine trägt - also auch gegen den Tumor.

Weiter Bedarf an Auffrisch-Impfungen?

BioNTechs Corona-Impfung basierte auch auf dieser Technik. Jetzt ist es Ziel des Forscherteams, das Verfahren möglichst bald auch gegen viele andere Krankheiten wirksam zu machen. Doch ist man hiermit weit genug, um die Anleger zu besänftigen?

Seine Forschung umzuleiten und sich für eine Zeit voll auf die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes zu konzentrieren, war für BioNTech ein Risiko, hat aber einen Riesenerfolg gebracht. Der erste mRNA-Impfstoff hat der Firma Gewinne eingefahren, die jetzt in die Arbeit anderer Forschungsgebiete fließen können.

Diese eigentlichen Forschungsgebiete betreffen Krebstherapien, aber auch die sehr aufwändige Tuberkulose-Forschung und die Bekämpfung von Infektionskrankheiten wie Grippe, Dengue, HIV, Borreliose, Gürtelrose, Genitalherpes, Gelbfieber oder Malaria. Parallel wird auch der Corona-Impfstoff weiterentwickelt und angepasst.

Hömke vermutet: "Weltweit wird es weiter Bedarf für Impfstoff gegen Covid-19 geben, allerdings in einem geringeren Umfang als in den Pandemie-Jahren 2020 bis 2022. Denn es gibt kaum noch Bedarf für eine Grundimmunisierung mit mehreren Impfungen." Viele Expertinnen und Experten rechneten aber damit, dass es Bedarf an Auffrischimpfungen für bestimmte Zielgruppen geben werde.

Viel Konkurrenz bei der Krebstherapie

Trotz all dieser umfangreichen Forschung darf im Hinblick auf den Unternehmenswert nicht übersehen werden, dass BioNTech alles andere als allein ist auf diesen Forschungsfeldern. Es gibt unterschiedliche Arten von Krebsmedikamenten, die mRNA verwenden. Keines dieser Medikamente ist bisher zugelassen."

BioNTech arbeitet an mRNA-Wirkstoffen gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs und einer häufigen Form von Lungenkrebs. Laut PharmaProjects Database, einer internationalen Datenbank für Arzneimittel-Entwicklungsprojekte, befinden sich derzeit 229 Medikamente gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs in der Erprobung mit Patienten oder stehen vor der Zulassung. Viele davon sind schon gegen andere Krebsarten zugelassen. Ähnlich ist die Wettbewerbssituation in der Therapie des Lungenkarzinoms.

BioNTech selbst ist mit mehreren Wirkstoffen ebenfalls bereits in der Phase klinischer Studien und schätzt diese selbst als vielversprechend - "mit Zulassungspotenzial" - ein. Für einige onkologische Produkte baut man in den USA bereits eine Vertriebsstruktur auf.

Studien ins Ausland verlagert

BioNTech hat kürzlich begonnen, ausländische Partner für seine Studien zu suchen. Für die für die Zulassung von Medikamenten notwendigen Studien an Patienten war Deutschland viele Jahre lang sehr begehrt. Mittlerweile gilt Deutschland in der Branche nicht mehr als uneingeschränkt geeignet dafür.

Auch BioNTech wählte dieses Jahr eine Forschungseinrichtungen in Großbritannien für seine klinischen Studien aus und spart dort Zeit und Geld. Es dauere, so Hömke, hierzulande oft bis zu einem Jahr, bis alle Verträge verhandelt und alle Genehmigungen erteilt seien, so dass endlich die ersten Patienteninnen und Patienten in der Studie behandelt werden könnten.

Analysten sehen Potenzial

Das gesamte Forschungsumfeld schätzen Börsenanalysten ein und geben ihre Empfehlungen weiter. Die These von der "Übergangsphase", die ein BioNTech-Sprecher im vorigen Monat selbst ausgegeben hatte, scheint auch bei den Analysten zu verfangen. Oft entscheiden deren Prognosen mit über Wohl und Wehe börsennotierter Unternehmen.

Zhiqiang Shu, Biotechnologie-Analyst der Berenberg-Privatbank, bezieht sich in seiner Einschätzung vollständig auf die Veröffentlichungen der Weltgesundheitsorganisation: Ein Update des Covid-Impfstoffes werde von der WHO als empfehlenswert eingestuft. "Wir meinen, das dürfte sich positiv auf die Hersteller von mRNA-Impfstoffen auswirken. Die Wahrscheinlichkeit anhaltender Mutationen bei SARS-CoV-2 halten wir für sehr plausibel, weshalb die jährliche Aktualisierung des Impfstoffes empfohlen wird."

Shu bezeichnet den BioNTech-Impfstoff als "besten seiner Klasse, der weltweit über den größten Marktanteil verfügt. Impfstoffe gegen das Coronavirus stellen eine mehrjährige kommerzielle Chance dar." Auch der Analyst erwartet, dass die Erlöse aus den Covid-19-Impfstoffen besonders die Entwicklung der Krebsimpfstoffe beschleunigen wird und einige der Programme in ein bis zwei Jahren ihre finale Phase erreichen.

Es gibt Risiken

Bei all den Erfolgsmeldungen sieht der Analyst aber auch Risiken für die Zukunft der Firma, wie zum Beispiel die aufgetretenen schweren Nebenwirkungen bei den Covid-19-Impfungen mit BNT162. Zum eigentlichen Kerngeschäft von BioNTech, der Krebsimmuntherapie auf mRNA-Basis, führt er als Risiken an: FixVac BNT111 könnte in entscheidenden Studien bei fortgeschrittenem metastasiertem Melanom fehlschlagen, und andere Programme im klinischen Stadium könnten nicht die gewünschte Aktivität zeigen.

Hinzu komme ein Rechtsstreit mit dem Tübinger Konkurrenzunternehmen CureVac, das BioNTech Patentrechtsverletzungen vorwirft und eine Entschädigung für die Verletzung geistiger Eigentumsrechte fordert. Es geht um die Pionierarbeit an der mRNA-Technologie in den 1990er-Jahren. Selbst das Nobel-Komitee beschäftigte sich schon mit der Frage, ob als Entdecker der Technik CureVac-Gründer Ingmar Hoerr oder die ehemalige BioNTech-Forscherin Katalin Kariko gelten kann. Dieser Streit, so Shu, sei für BioNTechs Börsenwert ein Risiko.

Kritische Aktionäre entlasten Vorstand nicht

Fragen zu seiner globalen Solidarität wird sich der BioNTech-Vorstand auf der Hauptversammlung auch anhören müssen. Der Dachverband kritischer Aktionäre wird gemeinsam mit Brot für die Welt und Oxfam den Antrag stellen, den Vorstand nicht zu entlasten. Hintergrund, so Leonie Petersen, Referentin für Globale Gesundheit und Impfgerechtigkeit bei Oxfam, sei, dass sich BioNTech, trotz hoher Umsätze und staatlicher Förderung nicht genug für einen global gerechten Zugang zum Covid-19-Impfstoff einsetze. "In Deutschland scheint die Covid-19-Pandemie schon fast vergessen, doch Menschen in einkommensschwachen Ländern haben immer noch nicht den gleichen Zugang zu Impfstoffen."

Zwar habe das Unternehmen im vergangenen März den ersten von mehreren geplanten Impfstoffproduktionscontainern nach Ruanda geliefert, wo 2024 Covid-19-Impfstoff und später vielleicht auch Impfstoff gegen Malaria und Tuberkulose hergestellt werden sollen. Doch sei bis heute nicht geklärt, so Petersen, "ob das Projekt an die afrikanischen Partner übergeben und zum Selbstkostenpreis produziert werden wird."

Mit Kigali in Ruanda ist BioNTech dann auch fast auf allen Kontinenten vertreten und wächst weiter. Mehr als 4500 Mitarbeiter aus 80 Ländern arbeiten, so BioNTech, "an einer innovativen Pipeline". Ein Produkt hat das Mainzer Pharmaunternehmen bisher sehr erfolgreich auf den Markt gebracht, an mehr als dreißig weiteren arbeitet es aktuell.

In einer früheren Version des Textes wurde an zwei Stellen der Verband Forschender Arzneimittelhersteller falsch zitiert. Die Passagen wurden korrigiert.

Zudem störte sich BioNTech an einer Formulierung des Experten Shu. Nach intensiver Prüfung wurde das Zitat entfernt und durch einen erklärenden Satz ersetzt.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen