Ein zur Hälfte gefüllter Arnzeimittelschrank
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Komplizierte EU-Regeln Warum Ärzten wichtige Medizinprodukte fehlen

Stand: 20.02.2024 08:45 Uhr

Eigentlich soll sie für mehr Sicherheit im Gesundheitswesen sorgen. In der Praxis führt eine neue EU-Medizinprodukteverordnung dazu, dass Medizinern immer häufiger passgenaue Lösungen fehlen.

Von Selina Bölle und Antje Stobbe, WDR

Dem kleinen Patienten, der auf dem OP-Tisch liegt, hat Stephan Schubert vor drei Monaten schon einmal das Leben gerettet. Levi (Name von der Redaktion geändert) kam mit einem schweren Herzfehler auf die Welt: Er hat nur eine Herzkammer. Gleich nach der Geburt mussten die Ärzte im Klinikum Bad Oeynhausen dem Neugeborenen eine künstliche Verbindung zwischen Lunge und Herz legen.

Nun will Schubert sichergehen, dass alles richtig funktioniert und auch die Größe der Verbindung noch passt. Durch einen Zugang in der Leiste muss er einen Untersuchungskatheter bis zum Herzen führen; durch Gefäße, die gerade einmal zwei Millimeter dünn sind.

Notstand bei medizinischen Produkten

Selina Bölle, WDR, Morgenmagazin, 15.02.2024 05:30 Uhr

Eingriff riskanter als eigentlich nötig

Ein heikler Eingriff, ohnehin schon. Der aber noch riskanter ist als nötig, weil das richtige Material fehlt, erklärt Schubert: "Eigentlich bräuchte ich jetzt einen diagnostischen Katheter mit einem sogenannten Ballon vorne. Aber die sind im Moment nicht lieferbar. Der Nachteil ist, dass ich mit einer nicht so geschützten Spitze im Herzen arbeite und Herz oder Gefäße dabei verletzen könnte."

Improvisieren und dabei höhere Risiken in Kauf nehmen müssen: Das präge inzwischen allzu oft den Alltag vieler Ärztinnen und Ärzte, so Schubert. "Wir wollen ja eigentlich mit dem besten Material das beste Ergebnis erzielen, und das fehlt uns zunehmend. Wir müssen immer irgendwie neu überlegen. Akut."

Strengeres Zulassungsverfahren - mit mehr Bürokratie

Ursache für den Mangel ist eine EU-Regelung, die zwar ein hehres Ziel hatte, nach Ansicht von Medizinern und Herstellern aber über dieses hinausgeschossen ist: Die EU-Medizinprodukteverordnung beziehungsweise "Medical Device Regulation", kurz MDR. Die sollte eigentlich für mehr Sicherheit sorgen - durch ein strengeres und aufwändigeres Zulassungsverfahren, sowohl bei neuen Medizinprodukten als auch bei solchen, die bereits auf dem Markt sind.

Kritik an der seit 2021 geltenden Regelung gibt es schon länger. Inzwischen zeigt sich in der Praxis aber immer deutlicher, dass aus den Befürchtungen Realität geworden ist.

Das Unternehmen Erbe beispielsweise ist einer der großen Player in der Branche. Seit über 170 Jahren produziert die Tübinger Firma chirurgische Geräte und Instrumente. Die neue EU-Regelung hat dazu geführt, dass Erbe in den vergangenen drei Jahren nach eigenen Angaben Produkte mit einem Umsatzvolumen von rund 20 Millionen Euro vom Markt genommen hat. Der Grund, so das Unternehmen: zu viel Bürokratie, zu großer Personalaufwand, zu hohe Kosten für die erneute Zulassung.

Europa nicht mehr erste Wahl

Und das ist längst nicht alles. Für neue Produkte sei der europäische Markt gar nicht mehr die erste Wahl der Hersteller, sagt Vertriebsleiter Marcus Felstead: "Früher war es einfach ein Automatismus, dass alle Firmen in Europa ihre Produkte auch zuerst in Europa zugelassen haben. Nun ist es bei uns so, dass speziell die innovativen, neu entwickelten Produkte, zuerst in anderen Ländern auf den Markt gebracht werden, bevor sie Patienten in Europa zu Gute kommen."

Wenn überhaupt. Denn eine Erstzulassung in den USA ersetzt nicht das neue komplexe Zulassungsverfahren für die EU. Einer aktuellen Studie der DIHK, des Netzwerks Medical Mountains und des Industrieverbands Spectaris zufolge weicht mittlerweile jedes fünfte Unternehmen mit medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte aus. Nach Angaben der Unternehmen gibt es für fast 20 Prozent der gestrichenen Produkte keine gleichwertige Alternative am Markt.

Besonderes Problem bei Nischenprodukten

Besonders kritisch ist die Situation bei dringend benötigten Nischenprodukten, die zwar nur in geringen Stückzahlen hergestellt werden, die für betroffene Patienten aber oft extrem wichtig sein können - sofern sie eine Zulassung haben. Gerade für kleinere Hersteller solcher Nischenprodukte ist das neue Zulassungsverfahren nämlich finanziell oft gar nicht mehr zu stemmen.

Der Chef eines Unternehmens, das anonym bleiben möchte, berichtet gegenüber tagesschau.de, dass drei dringend benötigte Produkte für die Kinderkardiologie fertig entwickelt seien. Diese werde man aber in den USA zulassen - nicht in Europa. Eine Zulassung in der EU rechne sich einfach nicht: "Die Kosten würden in die Millionen gehen. Solche Nischenprodukte bringen im Jahr aber gerade mal ein paar Hunderttausend Euro ein. Da müssten wir sogar drauflegen, und das kann sich ein kleineres Unternehmen wie wir einfach nicht leisten."

Nachbesserungen gefordert

Kritiker warnen bereits seit geraumer Zeit vor genau solchen Situationen. Und auch bei den Politikern beginnt das Umdenken. Der Europa-Abgeordnete Peter Liese von der CDU, der eigentlich ein Befürworter des verschärften Zulassungsverfahrens war, fordert Nachbesserungen: "Früher hat man einen Aktenordner gebraucht, jetzt braucht man zehn, und ich meine, man müsste mit zweien eigentlich auskommen."

So lange sich das Verfahren nicht ändert, müssen Ärztinnen und Ärzte wie Stephan Schubert im Klinik- und Praxisalltag weiter improvisieren: "Wir sind täglich in der Notwendigkeit zu sagen: Haben wir das noch? Können wir das machen? Und das macht mich traurig - dass wir nicht gehört wurden, dass bislang die Verantwortlichen in den Ministerien und auch in der EU immer gesagt haben: Das wird schon irgendwie."

Immerhin: Die EU-Kommission teilt auf Anfrage mit, dass man speziell für Nischenprodukte inzwischen an neuen Leitlinien arbeite. Und auch der Gesundheitsausschuss des Europaparlaments steht aktuell mit der Generaldirektorin für Gesundheit zu dem Thema im Austausch. Klar ist: Dieser Prozess wird dauern. Gerade für Patienten wie den kleinen Levi in Bad Oeynhausen sind schnelle Entscheidungen aus Brüssel jedoch möglicherweise überlebenswichtig.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das ARD-Morgenmagazin am 15. Februar 2024 um 05:30 Uhr.