Auf einem roten Schild werden Arbeitskräfte gesucht
Analyse

Fehlende Fachkräfte Goldene Zeiten für Arbeitnehmer?

Stand: 04.02.2023 15:44 Uhr

Der Personalmangel spitzt sich zu, praktisch überall. Beschäftigte haben gegenüber Arbeitgebern eine gute Verhandlungsposition. Doch die Wirtschaft insgesamt leidet, wogegen es einen Mix von Maßnahmen braucht.

Eine Analyse von Michael Houben, hr

Egal ob rund um Hamburg, Halle, Stuttgart oder Köln: Immer häufiger fallen nicht nur einzelne Züge aus, sondern gleich ganze Zuglinien und S-Bahn-Strecken. Teilweise tagelang, laut Durchsagen am Bahnsteig "wegen kurzfristiger Erkrankung des Personals" - auch lange nachdem die Corona-Wellen abgeebbt sind.

Vor allem in Stellwerken und Leitstellen können Krankheitsfälle oft nicht mehr kompensiert werden. Die Beschäftigten haben ohnehin schon unzählige Überstunden aufgebaut. Die Personaldecke ist auf Kante genäht.

Arbeitgeber müssen mit Vorteilen locken

Weil der Verkehr seit Jahren zunimmt, benötigt die Deutsche Bahn eigentlich sogar zusätzliches Personal. Sie stellt pro Jahr auch weit mehr als 20.000 Menschen neu ein. Aber fast eben so viele verlassen das Unternehmen.

Nicht nur in den Ruhestand, wie der Betriebsratsvorsitzende von DB-Regio berichtet. Laut Ralf Damde verlassen sie "die DB für neue Jobs in der Gastronomie, bei Discountern, in jede Menge andere Branchen, wo man mittlerweile mit geregelteren Arbeitszeiten oft sogar besser verdienen kann". 

Ohne Angst vor Arbeitslosigkeit einem krisensicheren Job den Rücken kehren? Früher undenkbar, heute kaum ein Problem. Im Gegenteil. Zwar gibt es für Lohnforderung naturgemäß Grenzen. Aber viele Arbeitgeber müssen mit anderen Vorteilen locken: mit betrieblicher Kinderbetreuung, flexibler Arbeitszeit, Homeoffice oder auch preiswertem Wohnraum.

Alle Branchen, alle Qualifikationen

Der Headhunter Marcus Reinhard suchte früher vor allem hochbezahlte Fachkräfte für Führungspositionen. Heute fahndet er für praktisch allen Branchen selbst nach einfachen Hilfskräften. Aktuell sucht er Berufskraftfahrer für einen Familienbetrieb mit Spezialfahrzeugen zur halbautomatischen Reinigung von Mülltonnen.

Es gibt dort geregelte Arbeitszeit, mehr Lohn als bei Lkw-Fahrern üblich und sogar Lohnfortzahlung,  wenn im Winter bei Frost die Maschinen und ihre Fahrer  nicht arbeiten können. Trotzdem stehen die teuren Lkw oft wegen Arbeitskräftemangel still, können vorhandene Aufträge nicht abgearbeitet und nicht mehr angenommen werden.

All das ist laut Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung erst der Anfang. Die Babyboomer gehen allmählich in Rente, bis zum Jahr 2035 wird es in Deutschland rund sieben Millionen weniger Arbeitskräfte geben. Bei schrumpfender Bevölkerung entfallen zwar gerade im Dienstleistungsbereich auch Jobs, doch die Schrumpfung wird nicht nur Unternehmen hart treffen. "Wenn wir uns anschauen, wie unsere Wirtschaft eigentlich bisher gewachsen ist, dann war das Wachstum über Beschäftigungsausweitung, und das kann nicht mehr die Strategie sein", sagt Weber.

Sprachkompetenz braucht Zeit

Die Bundesregierung will durch bessere Integration und schnellere Einbürgerung Arbeitnehmer aus Ländern locken, die nicht zur EU gehören. In Berufen, die hohe Sprachkompetenz erfordern, kann das aber nur langfristig wirken. 

Und: Fachkräfte müssen sich in Deutschland auch willkommen fühlen, sie müssen Wohnraum finden. Headhunter Reinhard etwa weiß vom Fall eines aus dem Iran geflohenen Computerspezialisten, dem ein Arbeitgeber einen Arbeitsvertrag mit 300 Seiten vorlegte - eine kaum lesbare Menge Papier. Durch Reinhards Vermittlung arbeitet er heute in einem mittelständischen Betrieb, der ihm einen Arbeitsvertrag mit nur drei Seiten Umfang vorlegte. 

Gezielte Fortbildung im höheren Alter

Der Headhunter verweist auch auf andere Methoden. Ältere Mitarbeiter, die bei manchen Arbeitgebern kurz vor der Rente kaum noch gefördert werden, blühten nach einem Jobwechsel mit neuen Aufgaben oft noch regelrecht auf und hielten bis zur Rente durch. Frauen, die während der Kindererziehung vielleicht im Büro oder Teilzeit gearbeitet haben, könnten in höherem Alter durch gezielte Fortbildung oft auch höher qualifizierte und besser bezahlte Jobs ausfüllen.

Beide Bereiche hält auch der Experte Weber für entscheidend: "Wenn jemand einen Verbrennungsmotor montiert, aber seinen Arbeitsplatz wegen Umstellung auf E-Mobile verliert, dann hat er auch genug Qualifikation, um Wärmepumpen oder Solaranlagen zu montieren." Da genüge oft eine kurze Fortbildung von wenigen Monaten.

Darauf sei unser Bildungssystem und auch die Praxis von Stellenausschreibungen aber nicht ausgelegt. Deutschland müsse alle Potenziale ausschöpfen - um Zuwanderung und Integration sowie Vollzeitbeschäftigung von Frauenzu fördern und ältere Arbeitnehmer vor der Rente zu aktivieren.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 04. Februar 2023 um 12:00 Uhr.