Evergrande Zentrale in Shenzhen

Nur eine Verschnaufpause? Evergrande verteilt Beruhigungspillen

Stand: 22.09.2021 13:16 Uhr

Der chinesische Immobilienkonzern Evergrande sendet einen Hoffnungsschimmer für die Märkte. Doch eine Pleite ist damit noch nicht vom Tisch. Auch europäische Banken würden zu den Opfern zählen.

Von Angela Göpfert, ARD-Finanzredaktion

Die Zeit drängt im Fall Evergrande. Das zeigt eine Übersicht der Fondsratinggesellschaft Morningstar, wonach 47 Prozent der über 300 Milliarden Dollar Schulden des taumelnden chinesischen Immobilienkonzerns noch in diesem Jahr fällig werden.

Schicksalstag für Evergrande?

Alle Augen richten sich nun auf Donnerstag, den 23. September. Dann werden nämlich Zinszahlungen an inländische wie auch ausländische Investoren fällig. Kann Evergrande seine Gläubiger nicht bedienen, ist der zweitgrößte chinesische Immobilienkonzern pleite. Die Ratingagentur S&P Global Ratings rechnet damit, dass Evergrande noch in dieser Woche bankrott gehen könnte.

Zur Wochenmitte kann Evergrande die Nerven der Anleger allerdings etwas beruhigen. Die Nachrichtenagentur Reuters meldet, dass Evergrande morgen eine Kuponzahlung in Höhe von 35,9 Millionen Dollar für ihre Onshore-Anleihen leisten will. Das lässt weltweit die Finanzmärkte aufatmen.

Rätselraten über ausländische Schulden

Doch dabei dürfte es sich nur um eine kleine Beruhigungspille, einen vorübergehenden Aufschub in der Evergrande-Saga handeln. Denn ein wichtiges Detail hat die Firma bislang nicht mitgeteilt: Ob sie auch in der Lage sein wird, die ebenfalls am Donnerstag fälligen Zinsen in Höhe von 83,5 Millionen Dollar für ihre Offshore-Anleihen zu bezahlen.

Auf dem chinesischen Offshore-Markt tätigen ausländische Anleger ihre Investitionen in auf Dollar lautenden Anleihen. Europäische Banken wie die Schweizer UBS und die britische HSBC, aber auch der durch seine iShares-ETFs bekannte weltgrößte Vermögensverwalter Blackrock sind hier in Sachen Evergrande vorn dabei.

Blackrock, UBS und HSBC unter größten Gläubigern

Die drei Finanzinstitute haben ihr Engagement bei Evergrande in den vergangenen Monaten weiter ausgebaut und gehören einer Morningstar-Studie zufolge zu den größten ausländischen Gläubigern des chinesischen Immobilienkonzerns.

So baute etwa die Schweizer Bank UBS ihre Evergrande-Position im Juli nochmals um 40 Prozent aus, während andere große Vermögensverwalter wie Fidelity, Pimco und die deutsche Allianz ihre Anteile an dem chinesischen Unternehmen zwischen Januar und Juli um bis zu 47 Prozent reduzierten.

Nur "Peanuts" für Blackrock & Co?

So sehr die Meldung schrecken mag, dass Blackrock & Co. teils noch im August und September in Evergrande investierten, als bereits erste Meldungen über die vertrackte finanzielle Lage bei dem Immobilienkonzern die Runde machten: Die Summen, um die es dabei geht, sind keineswegs sonderlich beängstigend.

Der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge belaufen sich die Evergrande-Anleihen in den Büchern der UBS auf knapp 300 Millionen Dollar. Zum Vergleich: 2020 verwaltete die UBS im Bereich Global Wealth Management ein Vermögen von 3,02 Billionen Dollar. Die Bilanzsumme belief sich auf 1,13 Billionen Dollar.

Im Falle von Blackrock beläuft sich Bloomberg zufolge das Gesamtengagement in Evergrande auf 400 Millionen Dollar, verteilt über mehrere Fonds. In Relation zum gesamten verwalten Vermögen von Blackrock sind auch das "Peanuts" - um das umstrittene Bonmot des ehemaligen Deutsche-Bank-Vorstandschefs Hilmar Kopper zu bemühen. Ende Juni verwaltete Blackrock den Rekordwert von 9,49 Billionen Dollar.

Verheerende Lehman-Pleite

Diese Vergleiche zeigen: Die Ängste vor einem "Lehman-Moment" für die globalen Finanzmärkte scheinen überzogen. Der Bankrott der US-Investmentbank 2008 markierte die Eskalation der US-Immobilienkrise in eine weltweite Finanzkrise.

Als Lehman 2008 Insolvenz anmeldete, hinterließ die US-Investmentbank Schulden von über 600 Milliarden Dollar. Gläubiger waren Banken weltweit, Lehman war Teil der DNA des globalen Finanzsystems. Die damals viertgrößte US-Investmentbank war so stark auf den globalen Finanzmärkten vernetzt, dass nach ihrem Zusammenbruch kaum ein Institut und damit kaum eine Volkswirtschaft nicht anfing zu wanken.

Vor allem im Inland verschuldet

Dagegen hat sich Evergrande vor allem im Inland verschuldet. Der Konzern ist mit den globalen Finanzmärkten kaum verflochten. Gerade einmal 20 Milliarden der insgesamt über 300 Milliarden Dollar Schulden liegen laut S&P bei ausländischen Gläubigern.

Die potenziellen direkten Ansteckungseffekte einer Evergrande-Pleite für die globalen Finanzmärkte dürften sich daher in Grenzen halten, meinen Experten. Die Konsensmeinung innerhalb der Analystengemeinde ist: Es handelt sich nicht um einen "Lehman-Moment".

Pekings Pläne noch unklar

Zumal auch die Chinesen womöglich etwas aus dem Lehman-Desaster gelernt haben könnten: Ein unkontrollierter Kollaps eines großen Unternehmens ist Experten zufolge stets das Worst-Case-Szenario für die Märkte. Zahlreiche Analysten, etwa von Citigroup, Nordea und S&P, rechnen daher damit, dass der chinesische Staat mögliche heftige Verwerfungen für die heimische Wirtschaft eindämmen werde.

Fakt ist aber auch: Bislang schweigt Peking. Erst wenn die chinesische Regierung klare Signale gibt, welche Schritte sie genau unternehmen wird, um eine geordnete Abwicklung oder Umstrukturierung zu unterstützen, könnten sich die Märkte nachhaltig beruhigen.

Risiko für die Weltkonjunktur

Analysten der französischen Bank Société Générale verweisen derweil auf einen weiteren, womöglich weitaus wichtigeren Aspekt des Evergrande-Dramas: Durch einen Kollaps des Immobilienkonzerns würde die chinesische Wirtschaft an Tempo verlieren.

Ein großer Teil des Vermögens der chinesischen Haushalten ist in den Immobilienmarkt investiert, unterstreichen auch die Commerzbank-Ökonomen Hao Zhou und Marco Wagner. Daher würde ein Einbruch der Immobilienpreise ein "großes Risiko für die Wirtschaft und die finanzielle Stabilität" darstellen.

Das größte Evergrande-Risiko für die Finanzmärkte und die globale Konjunktur ist somit weniger eine Finanzkrise à la Lehman, sondern vielmehr ein vermindertes Wachstum der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt - einhergehend mit einer geringeren Nachfrage nach Rohstoffen und ausländischen Produkten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 21. September 2021 um 17:23 Uhr.