Menschen sitzen mit Headphones an Computer-Arbeitsplätzen.
reportage

Cybertrading-Banden Wie Anlagebetrüger im Internet ihre Opfer prellen

Stand: 24.05.2023 10:18 Uhr

Der Betrug mit gezinkten Finanzportalen im Internet verursacht in Deutschland einen Milliardenschaden. Hinter den Portalen stecken hochorganisierte Banden. Ein früheres Mitglied gibt exklusive Einblicke.

Endlich. Es läuft gut für Adrian. Neue Freundin, neuer Job - und was für einer: richtig viel Geld. Endlich genug für Klamotten, Partys, Alkohol. Für Koks auch. Adrian ist Anfang 20, als er denkt, er hat den Jackpot geknackt. Dass das Geld gestohlen ist, ist ihm komplett egal.                    

Adrian ist Kosovare und heißt anders. Er bleibt anonym, weil er von der Zeit erzählt, als er Mitglied einer Betrügerbande war. Diese hatte mit falschen Online-Portalen für Finanzwetten - sogenannten Cybertrading-Portalen - Privatanleger aus Deutschland und Österreich um ihre Ersparnisse gebracht.

Schlechte Laune "nicht produktiv"

Adrian arbeitete in einem Callcenter und gab sich am Telefon als Finanzexperte aus. Aufgabe: deutschsprachige Anleger zu hohen Einzahlungen überreden. Ermittler gehen davon aus, dass diese Bande einen Schaden in Höhe von rund 115 Millionen Euro verursacht hat. Und bis heute gibt es nach Einschätzung von Ermittlern zahlreiche kriminelle Organisationen dieser Art.

Im Gespräch mit dem SR erzählt Adrian exklusiv, mit welchen Tricks solche Banden ihre Opfer prellen und wie es zugeht in den inneren Zirkeln dieses Multi-Millionenbetrugs.

"Es durfte keine schlechte Laune geben", beschreibt er. Denn ein Telefonbetrüger mit schlechter Laune sei "nicht produktiv". Also sorgte er für Stimmung: Adrian habe seinen Bürotag begonnen "mit Jäger und ein, zwei Strichen" - mit Jägermeister und Kokain. Das habe ihm die Angst davor genommen, nicht überzeugend zu klingen.

Menschen sitzen an Computer-Arbeitsplätzen und recken freudig ihre Arme in die Luft.

Eines der Fotos, die dem SR zugespielt wurden: Im Callcenter in Pristina sollte keine schlechte Laune herrschen.

Vertrauen am Telefon erschlichen

Überzeugen ließ sich unter anderem Ulrike Schneider (Name geändert). Im Internet war sie auf einen Werbeclip gestoßen. Die Plattform TradeInvest90 könne innerhalb von vier Wochen aus 250 Euro mehrere Tausend machen. Das klang nach einem richtig guten Geschäft. Ulrike Schneider stieg ein, bekam von TradeInvest90 einen Telefon-Broker zur Seite gestellt.

Betrug mit gefälschten Finanzportalen

tagesschau24, 24.05.2023 09:00 Uhr

Doch Schneiders "Broker" war ein Kollege von Adrian, Mitglied derselben Betrügerbande. Und der machte seinen Job schnell und gewissenhaft. Schon bald hatte er Schneiders Vertrauen erschlichen: "Es wurden dann auch schon private Dinge ausgetauscht." Das dachte sie zumindest. "Seine Frau lag im Krankenhaus, hat angeblich ein Kind bekommen." Durch solche Plaudereien sei "ein großes Vertrauensverhältnis" entstanden. Und Ulrike Schneider zahlte 10.000 Euro ein.

Auch Adrian habe am Telefon alles Mögliche erzählt, "nur dass der Kunde die Einzahlung macht". Eine kleine Kostprobe: "Ich habe an der Börse gearbeitet, war tätig in England." Egal was: "Zu 90 Prozent hat es funktioniert." Einziges Ziel: Vertrauen aufbauen.

Auto oder Wohnung als Erfolgsprämie

Schneiders Vertrauen war erst aufgebraucht, als ihr Tradingkonto leergeräumt und ihr klar war: Sie wurde betrogen. Das Geld der Anleger floss den Ermittlern zufolge direkt ins Betrugsnetzwerk: etwa in die Callcenter, in Werbung oder eine Manipulationssoftware für die Plattformen. Der Rest ging drauf für Protz und ausschweifenden Lebensstil.

Fotos und Videos der Betrügerbande, die dem SR zugespielt wurden, zeigen Golduhren, Sportwagen, eine rauschende Jahresabschlussparty. Erfolgreiche Callcenter-Agenten hätten ein Auto oder eine Wohnung bekommen, erzählt Adrian. "Man muss ja die Mitarbeiter motivieren."

Das ist ein krasser Gegensatz zum Alltag im Kosovo, wo das monatliche Durchschnittseinkommen bei nicht einmal 400 Euro liegt. "Entweder als Kellner arbeiten, 300 Euro verdienen, oder dort arbeiten und ein paar Tausender bekommen. Was würdest du denn machen?", fragt Adrian. Er und die anderen Callcenter-Agenten haben ihre Antwort gefunden.

Manche haben ihre Altersvorsorge verspielt

Die Opfer stehen mitunter vor den Trümmern ihrer Existenz: "Es sind viele Geschädigte, die ihre Altersvorsorge verloren haben", sagt Kriminalhauptkommissar Stefan Planz vom saarländischen Landeskriminalamt.

Manche Opfer hätten ihre Lebensversicherungen beliehen oder Kredite aufgenommen. Der höchste Einzelschaden in der Ermittlungsakte: 5,5 Millionen Euro.

In aufwändiger Kleinarbeit haben die Saarbrücker Behörden der Bande, der Adrian und Ulrike Schneiders Broker angehörten, das Handwerk gelegt. Ein Callcenter-Leiter - einer von Adrians Ex-Chefs - sitzt mittlerweile in Saarbrücken im Gefängnis, verurteilt zu zwölf Jahren Haft wegen mehrfachen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Ein Mann steht vor Oberklasse-Autos, im Hintergrund ein Firmengebäude mit dem Schild "Silkline Group".

Der Callcenter-Leiter posiert vor teuren Autos.

Nur zwei Bandenmitglieder sitzen im Gefängnis

Es ist der bisher größte Schlag, der deutschen Ermittlern gegen die Cyber-Betrugsmasche gelungen ist. Einerseits. Andererseits: Von mehr als 400 Mitgliedern dieser Bande sitzen aktuell gerade einmal zwei in Saarbrücken im Gefängnis. Der Kosovo etwa liefert keine eigenen Staatsbürger aus. Und der mutmaßliche Kopf der Bande, ein Deutscher, starb 2020 in Untersuchungshaft an einer Medikamenten-Überdosis.

Ulrike Schneider und den Tausenden anderen Opfern bleibt nur, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Denn die Masche mit betrügerischen Trading-Portalen floriert weiter. Und Adrian hätte auch keine Skrupel, wieder einzusteigen: "Wenn ich in der Lage wäre, dass ich es nötig hätte, würde ich es tun."

Dieses Thema im Programm: Mehr zu diesem Thema in der ARD Story "I want more - Milliardenraub im Netz" am 24. Mai 2023 um 22.50 Uhr im Ersten.