Männer an einem Fluss in Hanoi
Exklusiv

Eingeschleuste Vietnamesen Die verschwundenen Kinder

Stand: 30.04.2024 09:13 Uhr

Eingeschleust, aufgegriffen, verschwunden - bundesweit herrscht Unklarheit über das Schicksal illegal eingereister Kinder aus Vietnam. Offenbar steckt ein internationales Schleusernetzwerk dahinter.

Von Adrian Bartocha, RBB

Seit Jahren steigt die Zahl illegal nach Deutschland einreisender Vietnamesen, darunter immer mehr Kinder und Jugendliche. Nur ein Bruchteil wird bei sporadischen Kontrollen der Bundespolizei an der deutsch-polnischen Grenze oder in Berlin aufgegriffen, so im Juni 2018 auf der Autobahn A12. Zwei Schleuser waren mit einer Gruppe von zwölf Vietnamesen, darunter zwei Minderjährige, wahrscheinlich auf dem Weg nach Berlin.

Die Schlepper kamen in Haft, die erwachsenen Vietnamesen wurden umgehend nach Polen zurückgeschickt. Die zwei Jugendlichen, vermutlich 15 und 16 Jahre alt, wurden in die Obhut des Kindernotdienstes in Eisenhüttenstadt übergeben. Für unbegleitete Minderjährige sind, egal wo sie aufgegriffen werden, die Jugendämter zuständig. Der Staat nimmt sie in Obhut.

An jenem Abend im Juni war es schon spät, als die jungen Vietnamesen beim Kindernotdienst eintrafen. Doch ihr Aufenthalt dauerte nur kurz, wie rbb24 Recherche erfuhr. Man könne sie ja schließlich nicht festhalten. Wohin und mit wem sie verschwunden sind? Keine Ahnung.

Kindernotdienste sind offene Einrichtungen. "Entlassung durch Entweichung" lautet der Vermerk, den die Einrichtung in solchen Fällen an das zuständige Jugendamt schickt. In diesem Fall war es das Jugendamt des Landkreises Oder-Spree. Aber auch in Frankfurt/Oder, Märkisch-Oderland oder den sächsischen Landkreisen an der deutsch-polnischen Grenze kennt man Fälle wie diesen. Für die Jugendämter und Kinderschutzeinrichtungen ist das inzwischen Routine, sie erstatten eine Vermisstenanzeige bei der Polizei.

Vietnamesische Flagge in einem Gemüsemarkt in Hanoi

In Vietnam wird jungen Menschen und ihren Angehörigen gute Arbeit in Europa versprochen.

Kinder und Jugendliche werden instruiert

"Diese Minderjährigen sind, wenn sie zu uns kommen, offenbar instruiert, wissen, was zu tun ist, wen sie dann zu kontaktieren haben, wo sie hinzugehen haben, an welche Treffpunkte. Es gibt Leute, die dann auf sie warten. Da scheint vieles im Vorfeld organisiert zu sein", erzählt ein Mitarbeiter einer brandenburgischen Jugendhilfeeinrichtung, der anonym bleiben will.

Wohin? "Wir hatten Hinweise darauf, dass sie dann hier, in Deutschland offenbar zur Arbeit gezwungen werden. Und wir haben in der Vergangenheit schon die Behörden auf das Problem aufmerksam gemacht."

Bei der Polizei in Brandenburg werden die Vermisstenfälle bearbeitet. Es gibt dort auch Fotos dieser Jugendlichen. Doch bislang wurde kein einziger von der Polizei zur öffentlichen Fahndung ausgeschrieben.

"Wenn ein deutsches Kind verschwindet, ist die Öffentlichkeit viel schneller alarmiert", so der Mitarbeiter der Brandenburger Einrichtung. "Aber  verschwundene vietnamesische Kinder: tja, keine Öffentlichkeitswirkung."

"Dem würde ich widersprechen", sagt Hauptkommissar Roland Kamenz aus der Polizeidirektion Ost in Frankfurt/Oder. Grundsätzlich könne man das tun. Doch ob vermisste Personen zur öffentlichen Fahndung ausgeschrieben werden, bewerten und entscheiden die zuständigen Dienststellen. Kamenz beteuert, es werde mit dem erforderlichen Druck gefahndet. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass bei den Minderjährigen eine "Gefahr für Leib und Leben" vorliegt.

Durch Polen nach Deutschland

Jenseits der Grenze, in Polen, haben die Beamten jedoch ganz andere Erkenntnisse. Vor einem Gericht im polnischen Posen berichtete ein junger Vietnamese: Er sei immer wieder geschlagen, bedroht, zum Hungern und zur Arbeit gezwungen worden. In Posen findet gerade ein Prozess gegen eine international agierende Schleuserbande statt.

Der nach Polen eingeschleuste Junge sagt dabei als Zeuge aus. In seinem Dorf in Vietnam habe man ihn seinerzeit angesprochen und Arbeit in Europa angeboten. Dafür habe seine Großmutter ihr Haus an die Vermittler abgeben müssen. Seine Eltern lebten nicht mehr, also nahm er das Angebot an. 

Wochenlang sei er dann in Polen in einem Raum eingesperrt gewesen, bevor es mit einem Kleintransporter nach Deutschland ging. Auf dem Weg dorthin verursachten die Schlepper einen Unfall. Es gab Schwerverletzte unter den zehn Vietnamesen, mit denen er zusammengepfercht war. Sechs von ihnen waren noch minderjährig.

Die polnischen Ermittler und Staatsanwälte haben inzwischen ein klares Bild, was den Minderjährigen droht. "Wir reden hier vom Menschenhandel und von moderner Sklaverei. Es waren Kinder aus sehr armen Familien dabei, auch Waisenkinder", sagt der Posener Staatsanwalt Michal Smetowski im Interview.

Die in Posen angeklagte Gruppe soll fast 300 Vietnamesen nach Deutschland eingeschleust haben. Darunter zahlreiche Minderjährige. "Sie haben sie gezielt nach Deutschland und weiter nach Westeuropa gebracht, sie und ihre Familien bewusst in die Irre geführt, ihnen gute Arbeit versprochen. Sie haben sie unterwegs hungern und umsonst arbeiten lassen, sie geschlagen, ein Mädchen vergewaltigt. Wir gehen davon aus, dass man sie dann in Massagesalons unterbringt oder in Bordellen",  so Staatsanwalt Smetowski.

Blick auf den Roten Platz in Moskau

Die Chefs des Schleusernetzwerks säßen in Moskau und Hanoi, sagt ein Vertreter der polnischen Staatsanwaltschaft.

Ein internationales Schleusernetzwerk

Dabei ist die in Posen angeklagte Gruppe nach rbb-Recherchen nur Teil eines "hochprofessionellen und gut organisierten  Netzwerkes", dem mehrere hundert Schleusungen nachgewiesen wurden. Die Dunkelziffer dürfte jedoch viel höher sein. Ziel der Vietnamesen sind neben Deutschland die Länder Frankreich, Belgien, Niederlande und Großbritannien.

Der Grenzschutz und die Staatsanwaltschaft in Polen führen zur Zeit mehrere Ermittlungsverfahren gegen einzelne Gruppierungen durch. "Die, die wir kriegen, sind einfache Soldaten. Die Chefs sitzen in Moskau und Hanoi und machen von dort aus die Ansagen", sagt Maciej Florkiewicz von der Staatsanwaltschaft in Warschau.

Die Schleuserroute führt von Vietnam zuerst nach Moskau. Das geht relativ problemlos, denn Vietnamesen können visafrei nach Russland einreisen. Von dort geht es über die baltischen Staaten und Polen weiter Richtung Westen.

Die Kosten betragen um die 20.000 Dollar, so die polnischen Ermittler. Das Geld müsse entweder unterwegs erarbeitet, von Familien zwischendurch überwiesen oder am jeweiligen Ankunftsort abgearbeitet  werden. Doch es sollen auch Waisen- und Straßenkinder aus Vietnam nach Deutschland eingeschleust worden sein, die zuvor "von Auftraggebern im Westen bestellt" wurden.

Drehkreuz Dong Xuan Center

Wer die Grenze unkontrolliert überwunden hat, landet oft im Dong Xuan Center in Berlin Lichtenberg. Das Dong Xuan Center, auch Klein Hanoi genannt, ist ein riesiges, unüberschaubares Gelände. Auf gut 200 Hektar drängen sich in sechs überdimensionierten Markthallen Lebensmittelgeschäfte, Restaurants und Nagelstudios.

Das Center geriet in der Vergangenheit immer wieder ins Visier deutscher Ermittler. Zuletzt war das im Mai 2018 in Verbindung mit Schleusungen, Scheinehen und Drogenhandel.

Das Center gilt unter Berliner Polizisten als eine Art Logistikzentrum für die vietnamesische Schleusermafia. Immer wieder stoßen sie dort auf unbegleitete minderjährige Vietnamesen, die dann den Jugendämtern übergeben werden - und kurz darauf wieder verschwinden.

Seit 2012 wurden insgesamt 474 minderjährige Vietnamesen in der deutschen Hauptstadt als vermisst gemeldet, teilte die Polizei auf Anfrage von rbb24 Recherche mit. Außerdem liegen ihr Erkenntnisse vor, dass die Kinder und Jugendlichen die Kosten für die Schleusung nachträglich entweder durch Arbeit oder Straftaten aufbringen müssen.

Sklavenarbeit in Nagelstudios

Dass Berlin eine Drehscheibe im Menschenhandel mit Vietnamesen ist, weiß auch Michael Bender vom Hauptzollamt Gießen: "Es gibt dabei Verbindungen nach Berlin, offenbar auch in das Dong Xuan Center, das wissen wir aus den Ermittlungen."  Mehrere große Razzien führte der Zoll  in den vergangenen Monaten in Nagelstudios im Westen der Republik durch.  Es ging dabei um Schwarzarbeit. Bei illegaler Beschäftigung von Minderjährigen in Nagelstudios handle es sich nicht um Einzelfälle. Auch Bender sieht Hinweise, dass sie illegal über Russland und Polen nach Deutschland geschleust wurden.

Diskussion in den Niederlanden

Auch in den Niederlanden berichteten Investigativjournalisten der Radiosendung Argos über rund 60 Kinder, die aus geschützten Einrichtungen verschwanden. Seitdem gibt es eine breite öffentliche Diskussion. "Der Umfang dieses Menschenhandels ist so groß, dass wir alle sehr besorgt sein müssen. Wir können nicht ruhig bleiben, bis wir erfahren, wo diese Kinder jetzt sind, wohin sie gebracht wurden", sagte Herman Bolhaar, der Menschenhandelsbeauftragter der niederländischen Regierung vor wenigen Wochen. Er forderte eine internationale Untersuchung.

In Deutschland fordert jetzt erstmals der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige gegenüber rbb24 Recherche, dass Polizei und Jugendämter stärker tätig werden: Diese Kinder und Jugendlichen seien in der Obhut des Staates, der an Stelle der Eltern Verantwortung übernehmen müsse. "Verschwundene geflüchtete Minderjährige sind besonders gefährdet."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete B5 aktuell am 20. Juni 2019 um 06:50 Uhr.