Polizisten vor der Synagoge in Halle nach dem Anschlag (Archiv 9.10.2019)

Lagebild Rechtsextremismus Dem Verfassungsschutz fehlen Daten

Stand: 11.06.2020 18:12 Uhr

Der Verfassungsschutz sollte nach dem Lübcke-Mord und dem Halle-Attentat ein Lagebild über Rechtsextremismus im öffentlichen Dienst erstellen. Doch es fehlen die nötigen Daten.

Von Florian Flade, WDR und Georg Mascolo, NDR/WDR

Eigentlich sollte es längst fertig sein, das Lagebild des Verfassungsschutzes zum "Rechtsextremismus im öffentlichen Dienst". Im vergangenen Jahr, nach dem Attentat auf den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und dem Anschlag auf die Synagoge von Halle, war das Papier angekündigt worden - als Teil des Maßnahmenkatalogs der Sicherheitsbehörden für einen verstärkten Kampf gegen die rechten Umtriebe im Land.

Zuletzt waren immer wieder rechte Vorfälle unter Staatsbediensteten bekannt geworden. Bei der Polizei in Hessen, Nordrhein-Westfalen und in Bayern, in Mecklenburg-Vorpommern oder beim Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Es ging um Chatgruppen, in denen Beamte antisemitische oder rassistische Inhalte geteilt haben. Oder sich auf einen ominösen "Tag X"  vorbereitet haben sollen: Bürgerkriegs- und Umsturzfantasien von Männern im Staatsdienst.

Dies könnten Einzelfälle sein, sagte Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang im Dezember 2019. "Aber aus meiner Wahrnehmung zu viele Einzelfälle, als dass man sie nicht noch einmal in ihrer Gesamtheit betrachten muss, und schauen muss: Gibt es da Netzwerke?"

Thomas Haldenwang

Verfassungsschutzpräsident Haldenwang bat wiederholt um Zahlen.

Geplant war ein bundesweites Lagebild

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) wollte sich mit Hilfe der 16 Landesbehörden und des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) der Bundeswehr einen Überblick darüber verschaffen, wie groß das Problem des Rechtsextremismus innerhalb staatlicher Stellen tatsächlich ist. Ein bundesweites Lagebild soll dazu erstellt werden. Nach Recherchen von WDR, NDR und "Süddeutscher Zeitung" aber verzögert sich die Sache. Frühestens im Sommer soll das Papier nun fertig werden - wenn überhaupt.

Ende Juni wollen die Verfassungsschutzleiter darüber beraten, wie das Lagebild letztlich aussehen soll. Die bisherige Bilanz sei eher dürftig, heißt es. Nur ein paar Dutzend Fälle wurden dem Bundesamt aus den Ländern gemeldet. Und die stammen fast alle aus Sicherheitsbehörden. Der öffentliche Dienst aber ist weitaus größer, dort arbeiten mehr als vier Millionen Menschen. Darunter rund 250.000 Polizisten und 170.000 Soldaten. Von einer umfassenden Übersicht kann also kaum die Rede sein.

Solide Zahlen fehlen

Zuletzt hatte BfV-Präsident Haldenwang im April die Länder noch einmal um Zulieferung gebeten. Die bisherigen Zahlen seien derart niedrig, dies sei weder dem Bundestag noch der Öffentlichkeit zu vermitteln. Haldenwang bat deshalb darum, auch Verdachtsfälle und frühere Fälle zu erfassen.

"Niemand hat irgendwelche soliden Zahlen", meint Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan Kramer. Und das liege an der derzeitigen Rechtslage. Der Inlandsnachrichtendienst dürfe Staatsbedienstete nur in Ausnahmefällen überprüfen. Etwa wenn es um eine Sicherheitsüberprüfung geht oder wenn eine Waffenerlaubnis beantragt wird.

Auch der bayerische Verfassungsschutzleiter Burkhard Körner weist darauf hin, dass es "keine rechtliche Grundlage" dafür gebe, Mitarbeiter von Ämtern, Behörden und Ministerien pauschal mit den Datenbanken des Verfassungsschutzes abzugleichen.

Nur abgeschlossene Disziplinarverfahren?

Und so werden dem Verfassungsschutz meist nur jene Vorfälle bekannt, in denen Disziplinarverfahren gegen Beschäftigte im öffentlichen Dienst eingeleitet wurden. Doch auch hier gibt es Unterschiede. Manche Behörden zählen nur die abgeschlossenen Verfahren - und nicht nur die Verdachtsmomente. "Man kann nur abgeschlossene zählen. Alles andere wäre rechtsstaatlich unfair", so der niedersächsische Verfassungsschutzchef Bernhard Witthaut.

In Nordrhein-Westfalen - das zwölf rechtsextreme Vorfälle an das Bundesamt gemeldet hat - wird indes ein neuer Ansatz gewählt. Bei den dortigen Polizeibehörden gibt es inzwischen Extremismusbeauftragte. Deren Arbeit habe aber gerade erst begonnen, mahnt der nordrhein-westfälische Verfassungsschutzleiter Burkhard Freier.

Um einen bundesweiten Vergleich ziehen zu können, müssten auch andere Länder ähnliche Wege gehen und auch Beamte registrieren, die etwa mit rassistischen Sprüchen auffallen, aber noch nicht fest in der extremistischen Szene verankert sind. "Es macht nur Sinn, wenn es einheitlich ist", so Freier.

Ärztliche Schweigepflicht

Bei der Bundeswehr werden Bewerber seit einigen Jahren bereits systematisch vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) überprüft - auch rechte Tätowierungen können dabei ein Einstellungshindernis sein. Auch das Bundeskriminalamt (BKA) dokumentiert und überprüft sämtliche Tätowierungen bei den Einstellungstests auf "verfassungswidrige oder diskriminierende Aussagen", wie eine Sprecherin mitteilte.

Grundsätzlich aber gilt für Ärzte bei Militär und Polizei die Schweigepflicht weiterhin als höheres Gut: Sie dürfen auffällige Tattoos von bereits eingestellten Mitarbeitern nicht melden.

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln hat man derweil noch mit einem Fall in den eigenen Reihen zu tun. Ein Verfassungsschützer, der zeitweise Rechtsextremisten beobachtet hat, war selbst zum Verdachtsfall geworden. Er soll in einer Chatgruppe, in der auch Hitler-Bilder verschickt wurden, rechtsextreme Äußerungen getätigt haben. Außerdem soll er über private Kontakte zu einem Rockerclub verfügen, bei dem der Verfassungsschutz ebenfalls rechte Umtriebe prüft. Der Mitarbeiter wurde suspendiert, ein Disziplinarverfahren wurde eingeleitet. Ob er aus dem Dienst entlassen wird, ist noch unklar.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 12. Juni 2020 um 16:00 Uhr.