Ein Bild einer Ortschaft aus der Vogelperspektive. Einfamilienhäuser mit Gärten und teils Solaranlagen auf den Dächern.

Schleswig-Holstein Beispiel Kastorf: Wie Gemeinden von EU-Geldern profitieren können

Stand: 07.05.2024 18:27 Uhr

Auf den ersten Blick hat Kastorf nur wenig mit der EU zu tun - auf den zweiten allerdings schon. Mehrere Bauprojekte wurden mithilfe von EU-Geldern verwirklicht. Das brachte neuen Schwung und neue Herausforderungen.

Von Fabian Boerger

Für viele Menschen wirkt das, was in Brüssel passiert, weit weg. Zumindest die Distanz ist schwer von der Hand zu weisen: Rund 650 Kilometer muss man mit dem Auto bis zum Europäischen Parlament in Brüssel fahren, wenn man in der Gemeinde Kastorf (Kreis Herzogtum Lauenburg) losfährt.

Doch ist die EU wirklich so fern, wie sie wirkt? Für Dörfer wie Kastorf und seine etwa 1.200 Einwohnerinnen und Einwohner bedeutet die Europäische Union auch medizinische Versorgung, Einkaufs- oder Spielmöglichkeiten. Und das, ohne mit dem Auto in die umliegenden Dörfer fahren zu müssen.

Ein wunder Punkt: Ärztliche Versorgung

Da ist zum Beispiel das Ärztehaus. Ohne das gäbe es keine ärztliche Versorgung im Dorf. Denn der ehemalige Landarzt, der jahrzehntelang die Patienten betreute, ging in Rente. Einen Nachfolger für seine Praxis fand er nicht. Also übernahm ein medizinisches Versorgungszentrum die Räumlichkeiten. Unter der Bedingung, dass die Gemeinde mehr Platz zur Verfügung stellt. Heißt: Ein neues Gebäude musste her.

Ein Mann mit Rollator steht im Eingang einer Hausarztpraxis. Ein junger Mann steht vor dem Eingang bei seinem Fahrrad.

Mit 100.000 Euro von der EU konnte Kastorf das Projekt Ärztehaus laut Bürgermeister Lohmeier "ein bisschen einfacher" realisieren.

Dem Bürgermeister von Kastorf, Otmar Lohmeier (AWK), war klar: Das wird Geld kosten. Doch wichtiger war ihm, dass Möglichkeiten der ärztlichen Versorgung dem Dorf erhalten blieben. Denn die nächste Möglichkeit ist mehrere Kilometer entfernt - für alte Menschen eine Hürde. 1,4 Millionen Euro kostete das neue Gebäude. Mit 100.000 Euro förderte die EU das Projekt. "Damit war das Ganze ein bisschen einfacher", sagt Lohmeier.

"Ein Zukunftsmodell für Ärzte auf dem Land"

Und es ist mehr als die reine ärztliche Versorgung, die das Ärztehaus mit sich bringt. Es ist ein Aushängeschild. Jetzt betreuen fünf Ärzte auf zwei Etagen rund 2.500 Patientinnen und Patienten - aus Kastorf und von außerhalb. Zugleich könnte es ein Zukunftsmodel für Ärzte auf dem Land sein, findet Dr. Leonie Wöltjen.

Sie ist eine der Ärztinnen, die sich in Kastorf niedergelassen haben. Weil sie sich die Praxis mit mehreren Ärzten teile, könne sie in Teilzeit arbeiten, so die Medizinerin. Zugleich könnten sie sich gegenseitig vertreten. Das biete mehr Raum für Freizeit und Ausgleich. Dinge, die vor allem junge Ärztinnen und Ärzte ansprechen würden, so Wöltjen.

Ein Schild weist auf ein Projekt in Kastorf hin.

An die EU erinnert am Kastorfer Ärztehaus lediglich ein Schild am Eingang.

Dass den Bürgern und Patienten des Ärztehauses bewusst sei, dass in dem Gebäude auch ein Stückchen EU stecke, glaubt Bürgermeister Lohmeier hingegen nicht. An die EU erinnert lediglich ein Schild, das am Eingang des Gebäudes angebracht ist. Darauf ist notiert, was der Neubau bringen soll: Daseinsvorsorge für Alle.

8.000 Euro für einen Spielplatz

Ein solches Schild hängt auch wenige hundert Meter weiter auf einem Spielplatz. Er liegt in einem Neubaugebiet. Viele junge Familien mit Kindern würden dort wohnen, sagt Lohmeier. Mit rund 8.000 Euro bezuschusste die EU den Bau. Dass eine EU-Förderung für die Gemeinde überhaupt möglich sei, war auch dem Bürgermeister nicht bewusst. "Durch Zufall sind wir darauf gestoßen", sagt Lohmeier. Ein Mitarbeiter im Amt Berkenthin gab den Hinweis.

Dabei sind die lokalen Projekte wichtig für die EU. Durch sie kann die gefühlte Distanz zu den Menschen überbrückt werden, denn durch Spielplätze oder Ärztehäuser kommt die Unterstützung vor Ort und auf dem Land an. Zugleich wird die Organisation so auch fernab der Metropolen sichtbarer.

EU-Gelder durch Aktiv-Regionen

Die Förderungen kleiner Projekte mit EU-Geldern - wie beim Beispiel Kastorf - läuft über die sogenannten Aktiv-Regionen. Dabei handelt es sich um Zusammenschlüsse von Vertretern aus den Kommunen, der Wirtschaft, dem Sozialbereich. Unter der Schirmherrschaft des Landesministeriums für Landwirtschaft, ländliche Räume, Europa und Verbraucherschutz sollen so Projekte vor Ort gefördert werden, die nach eigenen Angaben "die ländlichen Räume zukunftsfähig gestalten und die Lebensqualität, Wirtschaftskraft und Gemeinschaft verbessern."

Ein älterer Herr mit Brille steht vor einem Spielplatz

Wenn nur die Bürokratie nicht wäre. "Allein kriegt man das als Gemeinde oder als Bürgermeister gar nicht mehr hin", sagt Otmar Lohmeier.

Landesweit gibt es 22 solcher Regionen. Ihr jährliches Budget stammt aus dem Europäischen Landwirtschaftsfonds und Landesmitteln. Insgesamt stehen laut Angaben des zuständigen Ministeriums für den Zeitraum 2023 bis 2027 55 Millionen Euro an EU-Mitteln zur Verfügung. Das ist ein Budget von 2,5 Millionen Euro pro Region und entspricht jährlich 500.000 Euro. Gefördert werden vor allem lokale Projekte, die sich mit den Themen Klimaschutz, Daseinsvorsorge oder regionaler Wertschöpfung befassen.

Kommt der neue Markttreff? Hoffnung auf 1,5 Millionen Euro aus Brüssel

Dort hat auch Kastorfs Bürgermeister die Anträge gestellt - für das Ärztehaus, den Spielplatz und einen Markttreff. Letzterer soll erst noch kommen und künftig am Ortseingang entstehen. Das wäre ein weiterer wichtiger Schritt für die Gemeinde. Kastorfs letzter Kaufmannsladen hat vor vielen Jahren geschlossen. Der nächste Supermarkt ist sieben Kilometer entfernt.

Ein Schild weist auf ein Projekt in Kastorf hin.

Am Ortseingang soll bald ein Markttreff entstehen. Die EU könnte das Projekt mit 1,5 Millionen Euro bezuschussen. Der Beschluss steht noch aus.

Insgesamt soll das Projekt 2,4 Millionen Euro kosten. 1,5 Millionen Euro Fördergeld könnte es vonseiten der EU geben. Noch hofft die Gemeinde auf Hilfe aus Brüssel. Die Anträge sind eingereicht. Der Bescheid, ob das funktioniert, könnte jederzeit in den Briefkasten der Gemeinde flattern.

Bürokratischer Aufwand hat zugenommen

Doch während die Förderungen den Ort beleben, bringen sie auch eine Schattenseite mit sich: bürokratischen Aufwand. Baupläne, Angebote, Wirtschaftsprüfungen und Machbarkeitsstudien: Zwei Wäschekorbe voll mit Aktenordnern hat der Bürgermeister allein für den Markttreff und das Ärztehaus rumstehen. Und das seien noch nicht alle, so Lohmeier. Einige würden noch beim Amt Berkenthin liegen.

Der Aufwand bei der Antragstellung habe in den letzten Jahren zugenommen, sagt Lohmeier. Zusätzlich gingen EU-Förderungen mit Auflagen einher, die erfüllt werden müssten. So würde der Supermarkt allein nicht gefördert. Es müssten Treffmöglichkeiten geschaffen werden, so Lohmeier, die der Gemeinde und den Bürgern zugute kommen.

Unterstützung bei der Bürokratie-Bewältigung bekommt Kastorf durch das Amt Berkenthin. Im Gegensatz zu Kastorf und vielen anderen Gemeinden sitzen dort Verwaltungsbeamte, die ehrenamtlich geführte Gemeinden bei der Antragstellung unterstützen. Lohmeier: "Wenn wir die nicht hätten... Allein kriegt man das als Gemeinde oder als Bürgermeister gar nicht mehr hin."

Bürgermeister: "Unterm Strich zählt der Erfolg"

Bürokratie, Verordnungswahn, Realitätsferne: So lauten die gängigen Klischees zur Europäischen Union. Und oft kommen sie nicht von irgendwoher. Doch für Dörfer wie Kastorf bedeutet die Europäische Union eben auch frischen Wind. Es löst Probleme, mit denen viele Gemeinden zu kämpfen haben - Stichworte: Ärztemangel oder Unterversorgung. Lohmeier: "Auch wenn das mühsam ist mit den Anträgen - unterm Strich zählt der Erfolg."

Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | Schleswig-Holstein Magazin | 07.05.2024 | 19:30 Uhr