Expertin kritisiert Neuregelung "Das Hartz-IV-Gesetz wird so nicht standhalten"
Die bisherige Hartz-IV-Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Nach monatelangen Verhandlungen bekommen die 3,5 Millionen Hartz-IV-Empfänger nun ab heute einen höheren Regelsatz. Aber auch das neue Gesetz würde einer Prüfung des Verfassungsgerichts nicht standhalten, sagt Sozialrechtlerin Anne Lenze im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Sind die Neuregelungen für Hartz-IV-Empfänger eine Verbesserung?
Anne Lenze: Die fünf Euro, die bei den Erwachsenen jetzt dazu gekommen sind, entsprechen einerseits gerade mal der Preissteigerung, die in den vergangenen Jahren erfolgt ist. Da, denke ich, ist die Enttäuschung groß. Auf der anderen Seite haben wir durch das Bildungspaket große Neuerungen, wo wir erst mal abwarten müssen, wie breit das von den Kindern abgefragt wird.
tagesschau.de: Werden die neuen Regelsätze dem menschenwürdigen Existenzminimum gerecht?
Lenze: Ich kann das so nicht unterschreiben. Es wurde an allen möglichen Stellschrauben zu Lasten der Leistungsempfänger gedreht, um ja die Geldleistung nicht zu erhöhen. Dahinter steckt eine gewisse Absicht: Denn nach Berechnungen einiger Wohlfahrtsverbände würden jedem Erwachsenen mindestens 420 Euro zustehen, hätte man die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts eins zu eins übertragen. Nach Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit gäbe es dann auch zwei Millionen mehr Leistungsempfänger, die zusätzlich zu ihrem niedrigen Einkommen auch Anspruch auf Hartz-IV hätten, weil sie heute im Niedriglohnsektor arbeiten. Das würde die prekären Arbeitsverhältnisse vieler Menschen in Deutschland sichtbar machen. Das will die Regierung natürlich nicht, denn man würde nach außen etwas zugeben, was man lieber verdeckt halten möchte.
tagesschau.de: Das Bundesverfassungsgericht hat auch angemahnt, dass die Regelsätze nicht transparent genug berechnet wurden. Hat sich denn daran etwas geändert?
Lenze: Bei den Regelsätzen für Erwachsene größtenteils ja. Bei den Kindern haben wir ein großes Problem. In der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008, die Grundlage für die Berechnung ist, sind sehr wenig Familienhaushalte enthalten. Man braucht mindestens hundert Haushalte, um verlässliche Aussagen treffen zu können. In der Statistik wurde zum Teil mit gerade mal 25 Haushalten gerechnet. Die Bundesregierung hat also mit nicht verlässlichen Zahlen den Bedarf eines Kindes errechnet.
tagesschau.de: Vor allem das 2,3 Milliarden teure Bildungspaket wurde von der Politik als Erfolg gefeiert. Wie kinderfreundlich ist es wirklich?
Lenze: Es ist ein bisschen kinderfreundlicher geworden, weil viele Kommunen das über eine Direktzahlung lösen werden. Das heißt: Man gibt an, ich bin in dem und dem Verein, der unterschreibt, gibt die Kontonummer an und dann wird das Geld für das Kind überwiesen. Aber trotzdem muss jede Leistung für die Kinder erst beantragt werden und nicht alle Kinder wollen zum Beispiel Musikunterricht nehmen oder in den Sportverein. Ein Kind, das vielleicht lieber mit seinen Inlinern fährt oder sich eine Computerzeitschrift kauft, hat Pech gehabt und bekommt unterm Strich weniger als seine Altersgenossen. Außerdem wird sich das Angebot in den einzelnen Kommunen stark unterscheiden. In manchen wird das Angebot sehr groß sein. Aber es werden ja nicht plötzlich neue Angebote gemacht, sondern die Angebote, die es gibt, werden finanziell unterstützt. Das kann sehr ungleich ausgehen.
tagesschau.de: Wird der aktuelle Kompromiss vor Gericht Bestand haben?
Lenze: Ich glaube, dass in einzelnen Punkten nachgebessert werden wird. Die verdeckt Armen müssen aus der Referenzgruppe für die Berechnungen rausgenommen werden. Das sind jene, die nach dem SGB II Hartz IV bekommen könnten, es aber nicht tun. Aus welchen Gründen auch immer. Ich vermute, dass es hauptsächlich Leute sind, die ein geringes Einkommen haben und die nicht für 5 oder 10 Euro mehr zum Amt gehen wollen, den gesamten Verwaltungsaufwand und die damit verbundene Kontrolle nicht auf sich nehmen wollen. Berechnungen gehen von 4,9 Millionen Menschen aus, die in Deutschland noch zusätzlich Anspruch auf Hartz IV hätten. Solange diese in die Referenzgruppe, also zu den einkommensschwächsten 15 Prozent aller Haushalte, dazu gerechnet werden, hat das Gesetz vor Gericht keinen Bestand. Schließlich war es ein ausdrücklicher Auftrag des Bundesverfassungsgerichts, diese verdeckt Armen aus der Referenzgruppe für die Berechnungen heraus zu nehmen. Da kann man nicht dran rumdeuten.
tagesschau.de: Sie rechnen also mit einem neuen Gerichtsverfahren - Wartet die Regierung die Zeit bis zum nächsten Urteil einfach ab?
Lenze: Da spielt die Bundesregierung auf Zeit. Wenn es gut für die Bundesregierung und schlecht für die Betroffenen ausgeht, kann es nochmal vier bis fünf Jahre dauern, bis das nächste Urteil gefällt wird - und so lange spart man Geld.
Das Interview führte Katja Keppner für tagesschau.de