Interview

Interview mit Verfassungsrechtler Wie lange darf Wulff Ministerpräsident bleiben?

Stand: 11.06.2010 11:01 Uhr

Der Kandidat von Union und FDP für das Bundespräsidentenamt, Wulff, hat sein Mandat im niedersächsischen Landtag aufgegeben. Als Regierungschef will er aber erst zurücktreten, wenn er als Bundespräsident gewählt ist. Verfassungsrechtler Hoffmann-Riem erklärt im Interview mit tagesschau.de, warum er das darf und welche Bedeutung zwei Tage haben können.

tagesschau.de: Wie bewerten Sie das Vorgehen Christian Wulffs, sich als noch amtierender Ministerpräsident Niedersachsens zur Wahl als Bundespräsident zu stellen, dieses Amt aber erst kurz vor der Vereidigung als neuer Bundespräsident niederzulegen? Die SPD findet das problematisch.

Wolfgang Hoffmann-Riem: Die Verfassung hat dazu keine besonderen Regeln. Aber: Der Bundespräsident darf nach Artikel 55 Grundgesetz weder einer Regierung noch einem Parlament angehören. Wann jemand seine vorherigen Ämter niederlegt, ist nicht entscheidend - nur dass er es tut. Nicht umsonst gibt das Gesetz dem Kandidaten zwei Tage lang Zeit zu entscheiden, ob er seine Wahl zum Bundespräsidenten annimmt. Dieser Zeitraum ist auch deshalb so lang gewählt worden, damit solch weitreichende Entscheidungen - wie der Rücktritt von einem Regierungsamt - getroffen werden können.

Zur Person

Wolfgang Hoffmann-Riem (70) ist einer der bekanntesten deutschen Verfassungsrechtler. Der promovierte Jurist lehrt seit 1974 als Professor für Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg. Von 1995 bis 1997 war er parteiloser Justizsenator in Hamburg. Im Jahre 1999 nominierte ihn die SPD für das Bundesverfassungsgericht. Bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2008 wirkte er dort als Richter im Ersten Senat.

tagesschau.de: Was bedeutet das konkret für das Land Niedersachsen?

Hoffmann-Riem: In Niedersachsen bedeutet der Rücktritt des Ministerpräsidenten zugleich Rücktritt des gesamten Kabinetts. In diesem Falle muss man sich fragen - da die Wahl Wulffs ja nicht sicher ist - ob eine solch weitreichende Folge bei einer im Ergebnis offenen Wahl sinnvoll ist. Kurzum: Wenn also der Ministerpräsident von diesem zweitägigen Entscheidungsrahmen Gebrauch macht, ist das verfassungsrechtlich einwandfrei.

tagesschau.de: Die Bundesversammlung wird nun etwas kurzfristiger einberufen als üblich. Die Union hat daraufhin angekündigt, nicht wie üblich prominente Bürger in die Bundesversammlung zu entsenden. Eine taktische Entscheidung?

Hoffmann-Riem: Ich weiß nicht, ob es Taktik ist. Es gibt kein Gebot, das besagt: "Zur Wahl des Bundespräsidenten werden prominente Wahlmänner und -frauen ausgewählt." Prominente haben keine besondere Legitimation, verglichen mit den anderen Bundesbürgern, an solchen Wahlen mitzuwirken. Es ist eine Entscheidung der Parteien, welche Wahlleute sie für die Bundesversammlung vorsehen. Ich sehe allerdings das Risiko, dass durch Einschaltung prominenter Personen, die sonst keine politische Verantwortung wahrnehmen und nicht für bestimmte politische Inhalte stehen, der politische Charakter der Entscheidung verdeckt wird.

tagesschau.de: Was sagt das Grundgesetz dazu?

Hoffmann-Riem: Nur so viel: Sie soll zu gleichen Teilen aus Mitgliedern des Bundestages und aus Wahlleuten bestehen, die von den Landesparlamenten bestimmt werden. Wer von den Landtagen gewählt wird, ist nicht geregelt. Die Parteien haben nach Artikel 21 des Grundgesetzes eine besondere Stellung und Funktion bei der politischen Willensbildung. Sie repräsentieren die verschiedenen Auffassungen der Bürger. Es liegt daher auch nahe, die politische Verankerung eines Kandidaten für das höchste Staatsamt auch im Umfeld einer politischen Partei zu suchen. Es steht dabei allen Parteien frei, Prominente oder Vertreter relevanter Gruppen, wie Kirchen oder Gewerkschaften, in die Bundesversammlung zu schicken. Eine verfassungsrechtliche Option, dass dies so sein sollte, gibt es nicht.

tagesschau.de: Die Bundes-FDP ringt zurzeit mit einigen ostdeutschen Landesverbänden, die offen Sympathie für Joachim Gauck bekundet haben. Gibt es Konsequenzen, wenn einzelne Landesverbände ausscheren?

Hoffmann-Riem:  Ich kann mir nicht vorstellen, dass es  eine ernsthafte Androhung von Konsequenzen geben kann. Die Wahl ist schließlich geheim. Konsequenzen gegenüber einzelnen Wahlleuten würden voraussetzen, dass das Abstimmungsverhalten öffentlich gemacht würde. Auch in der Bundesversammlung sind alle nur ihrem Gewissen unterworfen und können frei entscheiden. Das ist einwandfrei rechtlich abgesichert.

tagesschau.de: Ursula von der Leyen galt zunächst als Favoritin, dann wurde Wulff gekürt. Inwieweit schadet solch parteipolitisches Kalkül dem zukünftigen Staatsoberhaupt?

Hoffmann-Riem: Ich bin nicht damit einverstanden, dass eine politische Entscheidung, wie wir sie erlebt haben, als bloßes Parteigeplänkel abgewertet wird. Die Parteien haben eine enorm wichtige Funktion für die Artikulation des Bürgerwillens, und sie sind natürlich dazu berechtigt, dafür zu sorgen, dass es politische Mehrheiten für eine wichtige politische Entscheidung  gibt. Darin sehe ich prinzipiell nichts Negatives. Auch das Staatsoberhaupt wird nicht dadurch beschädigt. Schließlich wird es durch ein Verfahren legitimiert, das auch sonst in der Politik üblich und notwendig ist. Nämlich zunächst durch eine Kandidatenkür einer Partei und dann durch eine geheime Wahl.

tagesschau.de: Wäre es nicht an der Zeit, das Staatsoberhaupt direkt vom Volk wählen zu lassen, wie es auch unsere Nachbarn aus Österreich tun?

Hoffmann-Riem: Die Verfassung könnte freilich geändert werden und die direkte Volkswahl ermöglichen. Eines muss jedoch klar sein: Der Bundespräsident hat politisch keine besonders machtvolle Position inne. Als Staatsoberhaupt repräsentiert er den Staat und symbolisiert den Willen zur Integration der Gesellschaft. Natürlich hat er gewisse rechtliche Entscheidungsbefugnisse, aber der Schwerpunkt der politischen Macht liegt eindeutig nicht bei ihm. Insofern ist die Frage, warum gerade der, der nicht besonders machtvoll ist, direkt vom Volk gewählt werden sollte? Politisch machtvolle Institutionen wie der Bundeskanzler werden ja explizit nicht direkt gewählt. Und es gibt viele gute Gründe, warum dies so ist.

Das Gespräch führte Jon Mendrala für tagesschau.de