Grenzkontrolle an der A15 zwischen Deutschland und Polen

Migrationspolitik Was die Grenzkontrollen in Brandenburg bringen

Stand: 29.10.2023 09:55 Uhr

Viele Schutzsuchende erreichen deutschen Boden zuerst in Brandenburg. Die dort regierende SPD fordert Grenzkontrollen und Abschiebungen. Wie viel Entlastung bringen diese Maßnahmen wirklich?

Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke hat bekommen, was er wollte: stationäre Grenzkontrollen zu Polen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser war stets dagegen und hat eingelenkt. "Wir müssen alles unternehmen, um die illegale Schleusung einzudämmen", so Woidke. Der jetzige Zustand sei nicht hinnehmbar.

Die deutsch-polnische Grenze ist zu einem Migrations-Hotspot geworden. Aus keinem anderen Nachbarland meldet die Bundespolizei mehr "unerlaubte Grenzübertritte".

Wer Asyl sucht, darf über die Grenze

Werden die neuen Kontrollen hier also zu weniger Einreisen Asylsuchender führen? Rein rechtlich betrachtet: wohl kaum. Wer an der Grenze aufgegriffen wird und Asyl beantragen möchte, darf nämlich weiterreisen. Das betrifft laut Schätzungen der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Brandenburg zwischen 90 und 95 Prozent der Menschen, die ohne Aufenthaltserlaubnis über die Grenze kommen und von der Bundespolizei aufgegriffen werden.

Lars Wendland befürchtet aufgrund der Kontrollen mehr Arbeit für Brandenburgs Behörden, nicht nur die Polizei. Der GdP-Vorsitzende für die Bundespolizei in Berlin-Brandenburg argumentiert, die Kontrollen würden in erster Linie zu mehr Asylverfahren führen.

Er erwartet, dass nun auch Menschen aufgegriffen werden, die sonst unbemerkt in einen anderen EU-Staat weiterreisen und direkt dort versorgt würden. "Dass durch diese Kontrollen weniger Migranten nach Deutschland kommen, ist ein Trugschluss", so Wendland. Er befürchtet das Gegenteil.

Grenzkontrollen führen zu mehr Asylanträgen

Der Migrationsforscher Gerald Knaus vergleicht die deutschen Erwartungen mit der Realität in Österreich. Dort gibt es schon länger flächendeckend Grenzkontrollen. Hier würden heute mehr Asylanträge gestellt als vor den Kontrollen, mehr als in allen anderen Staaten der EU. "Leute aufzugreifen führt nur dazu, dass sie alle in Österreich einen Asylantrag stellen", sagt Knaus gegenüber ARD Kontraste.

Fraglich ist aber, ob mehr Asylanträge aufgrund der Grenzkontrollen wirklich eine größere Zahl Schutzsuchender im Land bedeuten. Der Europarechtler Daniel Thym bezweifelt das. "Die Antragszahlen gehen vielleicht nach oben. Die Zahl derer, die tatsächlich in den Unterkünften sind, ist deutlich niedriger", meint Thym.

Wer beispielsweise an der deutsch-polnischen Grenze aufgegriffen wird und eigentlich auf dem Weg nach Frankreich ist, mag hier einen Asylantrag stellen, um nicht abgewiesen zu werden - und anschließend trotzdem weiterreisen. Die europäischen Regeln sehen zwar vor, dass Asylsuchende in das Land ihres ersten Asylantrags zurückgeschickt werden können. In der Praxis passiere das jedoch oft nicht oder nicht rechtzeitig, erklärt Thym. Dann findet ein zweites oder drittes Asylverfahren statt.

SPD will konsequenter abschieben

Die SPD Brandenburg weiß, dass die Wirkung von Grenzkontrollen begrenzt ist. In einem Leitantrag zum bevorstehenden Landesparteitag, der dem RBB vorliegt, heißt es: "Wer keine Bleibeperspektive in Europa hat, darf erst gar nicht nach Deutschland und Brandenburg gelangen." Die Partei mahnt an, die EU-Außengrenzen besser zu schützen.

Wer es aber nach Deutschland schafft, ohne hier ein Recht auf Asyl zu haben, soll nach Ansicht von Brandenburgs Ministerpräsident zügiger abgeschoben werden. "Hierfür müssen wir die Regeln, die schon da sind, konsequent umsetzen", so Woidke.

Abschiebungen lösen das Problem nicht

In Deutschland waren Ende 2022 mehr als drei Millionen schutzsuchende Menschen registriert. Die große Mehrheit von ihnen ist anerkannt, die zweitgrößte Gruppe im Asylverfahren.

Gut 140.000 abgelehnte Asylsuchende sind ausreisepflichtig, doch auch von ihnen sind die meisten in Deutschland geduldet. Sie dürfen bleiben, zum Beispiel weil sie krank sind oder kleine Kinder haben. Nur 13.784 abgelehnte Asylsuchende könnten Stand Ende Juni laut Bundesregierung tatsächlich abgeschoben werden - und auch das nur, wenn sie ein Land übernimmt. Das ist etwa ein halbes Prozent aller Schutzsuchenden.

Selbst dieser unrealistische Idealfall brächte allenfalls kurzfristige Entlastung für überforderte Kommunen. Tatsächlich erwartet die Bundesregierung, dass dank ihrer Bemühungen um mehr Abschiebungen pro Jahr gerade einmal 600 Menschen zusätzlich das Land verlassen werden. Der Verdacht liegt nahe: Abschiebungen werden Deutschlands Probleme in der Versorgung Geflüchteter nicht im Ansatz lösen.

"Eine Realität, die nur gemanagt werden kann"

Die Migrationsforscherin Victoria Rietig nennt die Erwartung der Bevölkerung an die Politik überhöht. "Unsere Politiker werden dafür verantwortlich gemacht, dass sie das Problem Migration nicht lösen können", so Rietig bei ARD Kontraste. Das könne aber niemand. "Es ist kein Problem, das gelöst werden kann, sondern eine Realität, die immer nur gemanagt werden kann."

Laut ARD-DeutschlandTrend sehen 64 Prozent der Befragten in Zuwanderung eher Nachteile für Deutschland. Besonders groß ist die Unzufriedenheit damit, wie Abschiebungen funktionieren. Verstärkte Grenzkontrollen befürworten mehr als 80 Prozent. Was passiert aber, wenn Maßnahmen wie diese kaum einen Effekt zeigen?

Eine Migrationspolitik, die unrealistische Erwartungen weckt - darin sieht der Jurist Daniel Thym eine Gefahr für die politische Stimmung im Land. "All die Vorhaben und Gesetze sind Symbole, und Symbole sind wichtig in der Politik", so Thym. Die ganz große Gefahr sei aber, dass die Zahlen im nächsten Sommer trotzdem hoch bleiben. "Dann haben wir ein Problem." Im kommenden Herbst wird in Brandenburg gewählt.

In einer früheren Version hieß es, 54.000 Geflüchtete könnten tatsächlich abgeschoben werden. Diese Zahl bezieht sich aber auf ausreisepflichtige Menschen insgesamt. Der Absatz wurde korrigiert und ergänzt.

Mehr zum Hintergrund dieser und anderer Korrekturen finden Sie hier: tagesschau.de/korrekturen

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 27. Oktober 2023 um 23:35 Uhr.