Partner der Ampel-Koalition betreten die Bühne bei einer Pressekonferenz zum Koalitionsvertrag.
Analyse

Das erste Ampel-Jahr Ein Hauch von Hesse

Stand: 07.12.2022 16:29 Uhr

Aufbruchstimmung lag in der Luft, als die Ampelkoalition vor einem Jahr startete. Vieles wollten SPD, Grüne und FDP anders machen als die Union. Dann begann Russlands Krieg gegen die Ukraine - und änderte alles.

Eine Analyse von Anita Fünffinger, ARD Berlin

Als die Spitzen von SPD, Grünen und FDP vor einem Jahr ihren Koalitionsvertrag vorgestellt haben, durfte auch Hermann Hesse nicht fehlen. "Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne", zitierte SPD-Chefin Saskia Esken ein Gedicht des Dichters aus ihrem Wahlkreis Calw, zugleich Geburtsstadt des Literaturnobelpreisträgers. Ein Jahr später dominiert weniger der Zauber, sondern vielmehr Abschied und Neubeginn. Das Loslassen hat eine völlig andere Bedeutung für die Ampel bekommen.

Der Neustart nach 16 Jahren unionsgeführter Bundesregierungen sollte mit der Überschrift "Mehr Fortschritt wagen" gelingen. So überschrieben SPD, Grüne und FDP den Koalitionsvertrag. Die Anlehnung an Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" dürfte nicht zufällig sein. Brandt hatte nach der Zeit von Adenauer und Kiesinger übernommen. Der Muff sollte raus aus den Amtsstuben.

50 Jahre später sollten endlich die Faxgeräte raus aus den Behördenbüros. Schneller, digitaler und diverser sollten Unternehmen, Politik und Gesellschaft werden. "Die junge Generation hat uns beauftragt, diesen Status Quo der vergangenen Jahre zu überwinden", formulierte es FDP-Chef Christian Lindner.

Plötzlich sind 144 Seiten Koalitionsvertrag Makulatur

Der 24. Februar 2022 bremste viele Pläne der Ampelregierung jäh aus. Russland überfiel die Ukraine, der 144-seitige Koalitionsvertrag schien nur noch Makulatur. Bundeskanzler Olaf Scholz musste umdenken und umsteuern: "Wir erleben eine Zeitenwende", sagte er und kündigte massive Investitionen in die Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Es gab Zeiten, da standen die Sozialdemokraten auf der Bremse, wenn es um die Ausstattung der Bundeswehr ging. Seit Ende Februar ist das anders.

Vieles mehr ist anders: SPD, Grüne und FDP diskutierten über Waffenlieferungen ins Kriegsgebiet und die Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken. Der Preis für die Unabhängigkeit von russischer Energie ist hoch. Er verlangt viel Pragmatismus. Oder wie Außenministerin Annalena Baerbock es ausdrückte: "Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein."

Krise verwalten statt den Wohlstand

Ihr grüner Parteifreund, Wirtschaftsminister Robert Habeck, musste nach Katar fahren, um mit Gas und Wasserstoff vom Golf die deutsche Energieversorgung zu sichern. Frühere Wirtschaftsminister mussten mitunter nur den Wohlstand verwalten. Von CSU-Politiker Michael Glos ist der Satz überliefert: "Ich habe zumindest den Aufschwung nicht gestört."

Habeck hingegen hat seit dem Krieg mehrere Bälle in der Luft - ein paar fallen auch herunter. Die Gasumlage funktionierte nicht so wie gedacht. Die FDP wollte die Atomkraftwerke viel länger laufen lassen, die Grünen bewegten sich nur minimal. Am Ende musste Kanzler Olaf Scholz zur Richtlinienkompetenz greifen. Drei Meiler bleiben bis mindestens April 2023 am Netz. Es ruckelte in der Ampelkoalition, erste Risse zeigten sich.

Lieblingsprojekte in der Warteschleife

Dabei gelangen auch Projekte, die sich die Ampel vorgenommen hatte. Der Mindestlohn wurde nahezu geräuschlos auf zwölf Euro angehoben, das Bürgergeld drehte eine Runde durch den Vermittlungsausschuss, aber es tritt zum 1. Januar 2023 in Kraft. Beim Thema Einbürgerungsrecht bleibt es schwierig, die FDP fühlt sich von SPD und Grünen übergangen. 

Die gesellschaftspolitischen Themen, die die Ampel in den Mittelpunkt gestellt hatte, müssen länger warten. Die Kindergrundsicherung soll erst bis 2025 kommen. Das Abstammungsrecht für Kinder von gleichgeschlechtlichen Paaren hängt ebenso in der Warteschleife wie das Selbstbestimmungsgesetz, das das Transsexuellengesetz ablösen soll.

Vor allem der FDP-Finanzminister hat sich dieses Jahr wohl anders vorgestellt. Stattdessen musste Christian Lindner sogenannte Sondervermögen kreieren, weil es nicht Schuldenmachen heißen soll. Die Energiekrise wird zur Inflationskrise und kostet richtig viel Geld. Lindner ist der Finanzminister, der mit einem Etat von fast 500 Milliarden Euro plus Schattenhaushalte ins nächste Jahr gehen wird.

Dennoch sieht der FDP-Chef am Ende des Jahres einen "Wendepunkt", an dem die Regierung aus dem "reaktivem Entscheiden wieder hin zur stärkeren Gestaltung" kommen könne. Gestaltung sei schließlich das Ziel der Ampel gewesen. Damals, vor einem Jahr, als dem Anfang noch ein Zauber innewohnte. Das Gedicht von Hermann Hesse gilt nicht umsonst als Inbegriff für die immer wiederkehrende Notwendigkeit im Leben, umzudenken und neu anzufangen.