Trachtenträger der Bergmanns-, Hütten- und Knappenvereinen marschieren durch die Gassen der Innenstadt von Annaberg-Buchholz (Sachsen).

Studie zu Engagement in Ostdeutschland Öfter mal selbst anpacken

Stand: 12.03.2024 06:01 Uhr

Das zivilgesellschaftliche Engagement in Ostdeutschland liegt kaum noch hinter dem im Westen zurück. Auch weil Unternehmen tatkräftig unterstützen. Nun soll die Förderung gestärkt werden.

Unternehmen sind eine wichtige Säule der Zivilgesellschaft in Ostdeutschland. Sie engagieren sich besonders stark vor Ort und packen häufiger als westdeutsche Unternehmen mit an, wenn es um konkrete Projekte geht. Auch dank ihnen ist die Zivilgesellschaft im Osten grundsätzlich ähnlich stark ausgeprägt wie im Westen Deutschlands, wenngleich ihre Ressourcen begrenzt sind.

Das geht aus der Studie "Vielfältig. Lokal. Vernetzt" des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft zu unternehmerischen und zivilgesellschaftlichen Engagement in Ostdeutschland hervor. Das bislang unveröffentlichte Papier liegt tagesschau.de vor.

Studienautorin Tahmaz: "Ostdeutsche Unternehmen können Vorbild sein"

Laut Birthe Tahmaz, einer der Studienautoren, schauen ostdeutsche Unternehmen sehr darauf, welche Unterstützung ihre Kommunen konkret und langfristig brauchen. "Damit können sie ein Vorbild für westdeutsche Unternehmen sein", so Tahmaz, die den Think Tank "ZiviZ" des Stifterverbands leitet.

Gerade in Ostdeutschland, "wo Bürgerinnen und Bürgern in den vergangenen Dekaden ein besonders hohes Maß an Anpassungsfähigkeit abverlangt wurde", sei es wichtig, Menschen mitzunehmen und Chancen zur Mitgestaltung zu bieten, schreiben Tahmaz und ihre beiden Co-Autoren im Vorwort. Einem "medial geprägten Bild Ostdeutschlands" mit Assoziationen wie Strukturschwäche, Populismus oder gesellschaftlicher Überalterung halten sie neue Zahlen zur Zivilgesellschaft entgegen.

Die Studie basiert auf dem ZiviZ-Survey - einer repräsentativen Befragung zivilgesellschaftlicher Organisationen, die seit 2012 durchgeführt wird. 2023 nahmen rund 12.800 Organisationen teil. Außerdem zogen die Autoren eine Befragung von mehr als 7.300 Unternehmen zu Rate und recherchierten in Vereinsregistern. Politische Ausrichtungen wurden nicht untersucht.

Viele Vereine, kaum Stiftungen

So gab es in Ostdeutschland im Jahr 2022 insgesamt 102.096 registrierte zivilgesellschaftliche Organisationen, wobei 96 Prozent davon Vereine waren. Zu ihnen gesellten sich rund 2.100 gemeinnützige Kapitalgesellschaften, 1.800 rechtsfähige Stiftungen bürgerlichen Rechts und 275 gemeinwohlorientierte Genossenschaften.

In Westdeutschland spielen Stiftungen eine größere Rolle: Auf eine ostdeutsche Stiftung kommen zwölf westdeutsche. Die bedeutende Rolle der Vereine ist hingegen deutschlandweit gleich hoch.

Die Organisationen konzentrieren sich vor allem auf die Bereiche Kultur, Sport, Freizeit und Gesellschaft, Bildung und Erziehung. Sportvereine, Angelvereine und andere Sportorganisationen bilden insgesamt mit 23 Prozent in Ostdeutschland die größte Gruppe. Sie stehen vor allem in kleineren Gemeinden im Vordergrund, während Bildungsangebote wie Kindergärten in Trägerschaft und Erwachsenenbildung in den Großstädten vorne liegen.

Regional sehr unterschiedliche Entwicklungen

Allerdings ist die Dynamik regional unterschiedlich. Zwischen 2012 und 2022 wuchs die Zahl der Vereine in Sachsen und Sachsen-Anhalt, während sie in Brandenburg stagnierte und in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zurückging.

Mit Erfurt und Suhl gehören jedoch zwei Thüringer Städte neben Leipzig, Potsdam und einigen angrenzenden Landkreisen zu den Kommunen, in denen in den vergangenen Jahren besonders viele Vereine neu gegründet wurden.

Und auch bei der sogenannten Engagementquote liegt Thüringen über dem bundesdeutschen und westdeutschen Schnitt. Die Quote gibt an, wie viele Menschen der Bevölkerung sich engagieren. Sie lag laut dem Freiwilligensurvey des Bundesfamilienministeriums von 2019 bei 40,8 Prozent in Thüringen. In anderen ostdeutschen Ländern waren es zwischen 35 und 38 Prozent. Der Bundesdurchschnitt betrug 39,7 Prozent. Ost und West nähern sich also an.

Ostdeutsche Unternehmen "packen mit an"

Die Unterstützung dieser Zivilgesellschaft ist unter den ost- und westdeutschen Unternehmen auf den ersten Blick ähnlich stark ausgeprägt. Nahezu alle engagieren sich, in Ostdeutschland drei Viertel auch regelmäßig. Knapp neun von zehn Unternehmen geben Geld, vier von fünf auch Sachspenden. Rund ein Viertel starten eigene Projekte.

In manchen Bereichen zeigen ostdeutsche Unternehmen allerdings mehr Engagement als ihre westdeutschen Pendants. So überlassen sie häufiger eigene Mittel zur Nutzung (65 zu 59 Prozent) und leisten häufiger kostenlose Services (63 zu 56 Prozent). Und während 60 Prozent aller Unternehmen in Ostdeutschland erklärten, bei konkreten Anlässen auch "mit anzupacken", waren es in Westdeutschland 43 Prozent.

Wohl auch deshalb wenden sich ostdeutsche Organisationen auf der Suche nach Unterstützung häufiger an Unternehmen. 51 Prozent von ihnen arbeiten manchmal oder regelmäßig mit Unternehmen zusammen. In Westdeutschland sind es 42 Prozent.

Finanzielle Unterstützung hat Grenzen

Doch ein Problem bleibt die Finanzkraft. So spendet ein ostdeutsches Unternehmen im Jahr durchschnittlich rund 7.000 Euro weniger als ein westdeutsches, das im Schnitt rund 16.000 Euro gibt. Allerdings liegt das vor allem an der Vielzahl finanzkräftiger Unternehmen im Westen, denn der Medianwert unterscheidet sich nicht. 

Birthe Tahmaz sieht hier einen großen Nachteil Ostdeutschlands, denn historisch bedingt sei das Kapital von Unternehmen und Privatleuten geringer. "Umso wichtiger ist es, die Gründung von Stiftungen gezielt zu fördern und bei Unternehmensgründungen in Ostdeutschland gleich mitzudenken", sagt Tahmaz. Das Studienteam empfiehlt zudem Beratungsangebote zu Förderungen auszubauen und Antrags- und Nachweisverfahren von Behörden und Stiftungen zu vereinfachen.

Denn ostdeutsche Organisationen erhalten zwar häufiger öffentliche Mittel, allerdings kommt bei den Kleinsten nur wenig davon an: Sie stemmen lediglich acht Prozent ihrer Einnahmen aus öffentlichen Fördermitteln. Laut den Autoren fehlen ihnen Zeit und Personal, um Letztere zu akquirieren.

Gemeinschaftsinitiative für bessere Förderung

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider (SPD), sieht "eine vielfältige und engagierte Zivilgesellschaft in Ostdeutschland". Gerade in ländlichen Regionen fehle es aber oft an organisatorischer oder materieller Unterstützung, sagte Schneider. "Hier müssen wir alle gemeinsam anpacken."

Schneider will heute eine neue Initiative vorstellen: "Zukunftswege Ost" soll die Zivilgesellschaft in Ostdeutschland stärken. Ein Gemeinschaftsfonds soll unbürokratisch einzelne Projekte fördern.

Dafür haben sich mehrere private Stiftungen und Unternehmen zusammengeschlossen. Zu den Initiatoren gehören neben der Cellex Stiftung in Dresden, die Freudenberg Stiftung, die Stiftung "Bürger für Bürger aus Halle", die "Zeit Stiftung Bucerius" und der Bundesverband Deutscher Stiftungen. Schneider ist Schirmherr.