
"Squid Game" Kein Kinderspiel
Bei der Netflix-Serie "Squid Game"geht es um scheinbar harmlose Kinderspiele, doch enden sie für die Verlierer brutal. Das Spiel hat längst auch die Pausenhöfe erreicht. Experten sind alarmiert.
Plötzlich stehen die Spieler am Ende eines ummauerten Innenhofs, groß wie ein Fußballfeld. Am anderen Ende eine meterhohe Mädchenfigur. Dreht sie den Spielern den Rücken zu, dürfen sie laufen. Dreht sich die Figur um, müssen alle Spieler wie angewurzelt stehen bleiben. Wer sich noch bewegt, wird erschossen. "Rotes Licht, grünes Licht" heißt dieses brutale Spiel in der Netflix-Serie "Squid Game", das inzwischen auf deutschen Pausenhöfen nachgespielt wird. Wer verliert, bekommt eine Ohrfeige oder wird beschimpft.
So geschehen etwa in Augsburg, wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks zeigten. Fälle wurden auch aus Schleswig-Holstein gemeldet. In Niedersachsen seien beim Nachspielen an zwei Schulen Verlierer geschlagen oder in einer anderen Form bestraft worden, schreibt das Kultusministerium.
Und auch in Hessen gibt es Grundschulen, an denen Schülerinnen und Schüler Teile aus der Serie nachspielen, vor allem Spiele, die leicht nachzuspielen sind. "Teilweise gibt es keine Konsequenzen, wenn man verliert, teilweise spielerische Bestrafungen wie gegenseitiges Rangeln", so das dortige Kultusministerium. Die Lehrkräfte sollen nun darauf achten, dass es beim Nachspielen nicht zu gewalttätigen Handlungen komme.
"Beängstigendes Ausmaß an Gewalt"
Weitere Bundesländer haben inzwischen reagiert und die Schulen für das Thema sensibilisiert. "Wir sehen in der Serie ein beängstigendes Ausmaß an Gewalt", sagt eine Sprecherin der Bremer Bildungssenatorin.
Parallelen zum Mobbing
Für Hanna Christiansen, Professorin für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg, ist der Hype zunächst nichts Außergewöhnliches: "Bis vor Kurzem musste man 'Fortnite' spielen, um dazu zu gehören, oder 'Haus des Geldes' geguckt haben. Jetzt ist es 'Squid Game'". Bedenklich wird es aber aus ihrer Sicht, wenn Kinder die Serie gewaltsam nachspielen: "Wenn Kinder geohrfeigt oder beschimpft werden, ist das kein Spiel mehr."
Spiele dienten dazu, dass Kinder soziale Regeln ausprobieren und ihre Position in der sozialen Gruppe spielerisch prüfen könnten, so Christiansen. "Wird dieser Charakter aufgehoben, ist der Freiraum des sozialen Ausprobierens eingeschränkt und bedroht." Sozialer Rückzug und Ängste könnten die Folgen sein - sie warnt vor Gruppenbildungen: "Die Kinder, die gewonnen haben auf der einen und die anderen, die gedemütigt werden, auf der anderen Seite." Genau so etwas passiere auch beim Mobbing. "Da wissen wir aus Studien mittlerweile sehr gut, wie schädlich das ist."
Netflix empfiehlt die Serie ab 16
Besonders bedenklich findet Christiansen den Fakt, dass bereits Grundschüler die Serie anschauen. Experten plädieren daher dafür, die Altersangabe von Netflix ab 16 Jahren unbedingt zu beachten. Ansonsten bekommen die Kinder etwa Szenen zu sehen, in denen sich die Spieler in nächtlichem Flackerlicht gegenseitig erschlagen, teils mit Eisenstangen, teils mit bloßen Händen.
"Ein sechsjähriges Kind taucht noch ganz in die Filmhandlung ein, leidet und fürchtet mit den Identifikationsfiguren. Spannungs- und Bedrohungsmomente können zwar schon verkraftet werden, dürfen aber weder zu lang anhalten noch zu nachhaltig wirken. Eine positive Auflösung von Konfliktsituationen ist maßgebend", zitiert Psychologin Christiansen Bewertungskriterien, die die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) bei Offline-Medien wie Kinofilme oder DVD zugrunde legt. Solche Kriterien sieht sie bei "Squid Game" nicht gegeben: "Die Spannungs- und Bedrohungselemente sind sehr lang und es gibt keine positive Auflösung der Konfliktsituationen, sondern die Spielverlierer werden getötet und dies wird sehr explizit gezeigt."
Auch wenn die Eltern die Serie zusammen mit den Kindern schauten, sei dies nicht besser. Im Gegenteil: "Die Eltern legitimieren letztlich den Serienkonsum und nehmen in Kauf, dass ihre Kinder durch das Bildmaterial überfordert sind."
Ein gesellschaftspolitisches Problem?
In Niedersachsen sieht man in dem Phänomen folglich ein gesellschaftspolitisches Problem, kein bildungspolitisches: "Wenn Kinder im Hortalter Serien gucken, die erst für Jugendliche ab 16 Jahren gedacht sind, dann hat das nichts mit Defiziten der Vermittlung von Medienkompetenz in der Schule zu tun, sondern mit Erziehungs- oder Aufsichtsdefiziten", so ein Ministeriumssprecher.
In Augsburg haben die Schulen die Ohrfeigen und Beschimpfungen inzwischen besprochen. "Die Kinder waren erstaunt und erschrocken über ihre Handlungen. Die Betroffenheit war sehr groß. Das ist gut, weil es ein fruchtbares Ergebnis der Besprechung war", so Markus Wörle vom Schulamt der Stadt. Wie es nach den bayerischen Herbstferien weitergeht? "Entweder es hat sich beruhigt, oder es wird noch schlimmer."