Die Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin

40 Jahre Kirchenasyl "Dringend notwendig und genauso umstritten"

Stand: 30.08.2023 08:40 Uhr

Seit 40 Jahren bietet das Kirchenasyl Geflüchteten Schutz vor einer Abschiebung. Der Staat toleriert das, es gibt aber auch immer wieder Konflikte. Ein Besuch in der Gemeinde, in der alles begann.

Von Jörg Poppendieck und Carmen Gräf, rbb

"Just chill" steht auf dem schwarzen T-Shirt von Ayoub. Der Spruch passt so gar nicht zur Situation des 24-Jährigen. Bis vor Kurzem hat er in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg gelebt, zusammen mit fünf anderen Geflüchteten. Die Gemeinde hat ihnen Kirchenasyl gewährt.

Ayoub ist aus Syrien über Bulgarien geflüchtet. Dort wurde er zuerst registriert. Und dorthin sollte er deshalb aufgrund des Dublin-Verfahrens abgeschoben werden. Das wollte Ayoub auf gar keinen Fall. "Die haben uns wie Tiere behandelt", berichtet der junge Syrer. "Die haben uns geschlagen, die haben uns nackt ausgezogen. Es gab 1.500 Geflüchtete da, es gab kein Essen, es gab keinen Strom."

Letzte Chance Kirchenasyl

Noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Konflikten und Verfolgung. Weit mehr als 100 Millionen weltweit wurden Ende vergangenen Jahres nach Informationen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR gezählt. Für manche von ihnen ist das Kirchenasyl die letzte Chance.

So wie in der Heilig-Kreuz-Gemeinde in Berlin. Hier werden sie unter anderem von Marita Leßny betreut. Sie stellt ihnen sogenannte Schutzbriefe aus. Damit sind sie abgesichert für den Fall einer Polizeikontrolle.

Leßny berichtet von totaler Verzweiflung und Angst der Geflüchteten. "Die können einen nicht angucken. Es ist sehr auffällig, unter welchem Druck die stehen." Die Vorsitzende des Gemeindekirchenrats kümmert sich mit einem Team aus Freiwilligen um die Asylverfahren der Geflüchteten in ihrer Obhut. Ihr Erfahrungsschatz im Umgang mit den Behörden ist groß. Vor 40 Jahren ist in ihrer Gemeinde das erste Mal Kirchenasyl gewährt worden.

Eine Bewegung entsteht

Anlass für den Start der Kirchenasylbewegung war der Suizid von Cemal Kemal Altun am 30. August 1983. Der 23-Jährige sollte damals in die Türkei abgeschoben werden. Er stürzte sich überraschend aus einem offenen Fenster des Berliner Verwaltungsgerichts. In dem Gebäude wurde gerade über seine Anerkennung als politischer Flüchtling verhandelt.

Der tragische Tod des 23-Jährigen gilt als ein Wendepunkt in der Wahrnehmung der deutschen Asylrechtspraxis. Zahlreiche Menschen zeigten sich geschockt von dem Vorfall. Tausende begleiteten den Trauerzug zum Friedhof der Heilig-Kreuz-Gemeinde.

Nur wenige Wochen später, erinnert sich der damalige Pfarrer Jürgen Quandt heute, stand eine junge palästinensische Familie vor der Tür des Gemeindehauses, eine Matratze schon dabei, und bittet um Einlass. Sie fürchteten, in den Libanon abgeschoben zu werden. Dort herrschte gerade Bürgerkrieg.

Pfarrer Quandt ließ sie herein. "Ich habe das zugelassen. Und so ist unbeabsichtigt, ungewollt und ohne zu wissen, welche Konsequenzen das haben würde, das erste Kirchenasyl in Heilig Kreuz entstanden." Es ist der Beginn einer bundesweiten ökumenischen Bewegung, die jetzt ihr 40-jähriges Bestehen feiert.

Der Staat toleriert das Kirchenasyl

Der Schutzraum der Kirchen ist aufgrund von Kriegen und Konflikten für viele Geflüchtete weiterhin von großer Bedeutung. In ganz Deutschland gewähren derzeit Gemeinden einen zeitlich befristeten Schutz. Hintergrund des Kirchenasyls ist der Einsatz der Kirchen für das grundgesetzlich verankerte Recht auf Schutz von Menschenwürde, Freiheit und körperliche Unversehrtheit.

Der Staat toleriert in der Regel das Kirchenasyl. Allerdings kann er von seinem Zugriffsrecht Gebrauch machen, um Betroffene abzuschieben. Ziel der Kirchen ist es, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) die Fälle erneut überprüft. Menschen, denen durch eine Abschiebung Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit oder nicht hinnehmbare Härten drohen, sollen dadurch ein neues Asylverfahren oder ein Bleiberecht in Deutschland erhalten.

Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche berichtet, dass es gerade mehr als 431 Kirchenasyle in Deutschland gibt mit mehr als 650 Menschen. Die meisten sind sogenannte Dublin-Fälle. Diesen Geflüchteten droht die Rückführung in ein europäisches Erstaufnahmeland.

Konflikt zwischen Staat und Kirchen

Der Rückblick des Theologen Quandt auf 40 Jahre Kirchenasyl fällt nüchtern aus: Es sei weiterhin dringend notwendig und genauso umstritten. Quandt spricht von einem Dissens zwischen Staat und Kirchen, der in den vergangenen Jahren nicht überwunden werden konnte. Von staatlicher Seite habe immer die Behauptung im Raum gestanden, hier würden Gesetze nicht beachtet, so Quandt. "Das ist bis heute so geblieben."

Zuletzt war im Juli ein Kirchenasyl in Nordrhein-Westfalen von den Behörden geräumt worden. Das Vorgehen hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt und stieß bei Kirchen und Asylverbänden auf Kritik.

In den vergangenen drei Jahren mussten sich außerdem mehrere katholische Ordensfrauen vor Gericht verantworten. Sie hatten Kirchenasyl gewährt. In allen Fällen wurden sie entweder freigesprochen oder das Verfahren wurde eingestellt.