Plötzlich Kanzlerkandidatin: Annalena Baerbock (hier bei der digitalen Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 90/Die Grünen Brandenburg)
interview

Bundestagswahlkampf "Gefährliche Situation für die Grünen"

Stand: 03.07.2021 05:43 Uhr

Die Grünen sind unter Druck und kämpfen um ihren Herausfordererstatus. Für Laschet ist das Rennen längst nicht gelaufen - und was macht eigentlich Scholz? Ein Interview.

tagesschau.de: Vor ein paar Wochen schien es noch so, als seien die Grünen schon im Kanzleramt und die Union mit Armin Laschet chancenlos. Jetzt ist es umgekehrt. Dabei hat die Union nichts gemacht, außer endlich ein erwartbares - fast schon langweiliges - Wahlprogramm vorzulegen. Ist das Rennen gelaufen?

Thorsten Faas: Nein, sicherlich nicht. Wir sehen einfach sehr viel Bewegung in diesem Wahljahr. Niemand sollte daher abgeschrieben oder schon am Ziel gesehen werden. Deutlich wird vielmehr, wie sehr sich interne Konflikte und ihre ausführliche mediale Darstellung auf die Wahrnehmung der Kandidatin und der Kandidaten auswirken. So hat Laschet die Auseinandersetzung mit Markus Söder sehr zugesetzt. Und umgekehrt sehen wir bei Annalena Baerbock, dass sich die Stimmung nach ihrem kometenhaften Aufstieg angesichts der Vorwürfe gedreht hat. Solche Streitigkeiten haben sehr schnell und sehr drastisch Konsequenzen.

Thorsten Faas
Zur Person

Thorsten Faas ist Professor für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich insbesondere mit Demoskopie, Wählerverhalten und Wahlkämpfen sowie der Wechselwirkung zwischen Medien und Politik.

tagesschau.de: Wie kann das sein nach 16 Jahren Merkel? Wo ist die Aufbruchstimmung, die Sehnsucht nach etwas Neuem - wie es auch nach 16 Jahren Kohl war? Warum gibt es keine Wechselstimmung?

Faas: Der Kontrast zu 1998 ist wirklich bemerkenswert, schließlich ist die Dauer der Regentschaften von Kohl und Merkel ja identisch. Auch nach 16 Jahren Merkel bleibt sie die beliebteste Politikerin. Aber das hat auch sehr viel mit Corona zu tun, denn in der Zeit vor der Pandemie gab es viel Unzufriedenheit, alles war so zäh, so behäbig, die Zustimmungswerte für die Kanzlerin und die Regierung waren schlecht. Die Pandemie hat Merkel nochmal viel Sichtbarkeit verliehen und eventuell auch ein gewisses Sicherheitsbedürfnis produziert - selbst wenn nicht alles gut lief in der Pandemie. Doch gerade in der Pandemie ist Vieles, gerade auch Kritisches, sehr zeitpunktbezogen - und entsprechend schnell wieder vorbei.

"Eine gefährliche Situation"

tagesschau.de: Das dürften sich die Grünen vermutlich auch gerade wünschen. Wie gefährlich sind die Fehler und Vorwürfe der vergangenen Wochen in der Summe gegen die Grünen und ihre Kandidatin Baerbock?

Faas: Das ist eine gefährliche Situation für die Grünen. Das sieht man auch an der massiven Gegenreaktion der Partei auf die jüngsten Plagiatsvorwürfe, Stichwort "Rufmord". Ich glaube, bei den Grünen besteht auch die Sorge, dass innerhalb der Partei ein Erosionsprozess einsetzt. Dass die Grünen plötzlich nicht mehr an die Kampagne, an die Kandidatin glauben - und das wird dann richtig gefährlich. Dann taucht plötzlich der Schulz-Zug in den Köpfen auf - und das Ende ist bekannt.

tagesschau.de: Die "Baerbock-Bahn" ...

Faas: Da entwickelt sich gerade aus verschiedenen Gründen eine Negativspirale: Da ist etwa der frappierende Kontrast zwischen der extrem professionellen Choreografie der Baerbock-Kür und den Fehlern, die jetzt passieren. Dann war Baerbocks Kandidatur von Beginn an von Zweifeln begleitet, ob sie das wirklich kann. Die werden jetzt zumindest nicht kleiner, das sieht man auch an ihren Umfragewerten. Und wenn einmal so ein Fokuspunkt gesetzt ist, dass es bei Baerbock Ungenauigkeiten und Schlampigkeiten gibt, zieht das Folgerecherchen nach sich. Dieses Momentum ist ganz schwer zu brechen.

tagesschau.de: Aber Laschet war doch anfangs auch von Zweifeln begleitet, nach dem Streit mit Söder wirkte er nicht wie ein strahlender Sieger im Kanzlerkandidatenduell ...

Faas: Aber Laschet hat das sehr geschickt gemacht. Er hat Söder zumindest in der Öffentlichkeit "mit Liebe erdrückt" - trotz aller Demütigung und Schmach. Laschet schwärmte von der guten Zusammenarbeit mit Söder, von der gemeinsamen Entscheidung. Das ist schon ein Maß an Beharrlichkeit und Stehvermögen, das angesichts der Schärfe des Konflikts beeindruckend war.

tagesschau.de: Wie kommen die Grünen vom Gleis des "Schulz-Zuges" wieder runter?

Faas: Das Bild verselbstständigt sich gerade und erzeugt damit die entsprechenden Erwartungen - das ist ein kommunikativ-strategisches Problem für die Grünen. Dabei ist der Fall Schulz zumindest auf der inhaltlichen Ebene nur bedingt mit Baerbocks Situation vergleichbar. Sie hat eigentlich gar keinen massiven Höhenflug ausgelöst - die Grünen waren schon vor zwei Jahren auf Augenhöhe mit der Union und stehen auch jetzt noch stabil bei sehr guten 20 Prozent. Auch inhaltlich haben Baerbock und die Grünen viel zu bieten, auch im Detail - anders als bei Schulz damals, dessen Kampagne nicht wirklich stimmig war.

tagesschau.de: Aber zerbröselt den Grünen nicht gerade ihr Narrativ, von der akribisch arbeitenden kenntnisreichen Baerbock, die für einen Neuanfang in der Politik steht, für Transparenz?

Faas: Diese argumentative Linie ist natürlich beschädigt. Wirklich riskant wird es aber für die Grünen, wenn sie nun ihren Herausforderer-Status verlieren und sich die SPD auf Platz 2 vorschieben würde. Grüne und SPD sprechen ähnliche Lager an, und bei den Landtagswahlen gab es zuletzt einen Sog zu den Amtsinhabern. Die Scholz-Werte sind momentan besser als die Baerbocks. Das dürfte man bei den Grünen mit einiger Sorge beobachten.

tagesschau.de: Scholz spielt aber derzeit im Wahlkampf nicht wirklich eine Rolle ...

Faas: Richtig, der Konflikt spielt sich hauptsächlich zwischen Laschet und Baerbock ab. Das mag einerseits gefährlich sein für die SPD, weil sie einfach vergessen wird. Aber die Erzählung der SPD und Scholz ist eine andere: Seht her, die machen da ihre Mätzchen, ich aber arbeite hier, ich bin der eigentliche Amtsinhaber. Wirklich erfolgreich war diese Strategie bislang jedoch nicht. Das alles zeigt nur: Es ist einfach wahnsinnig viel offen in diesem Wahljahr.

tagesschau.de: Gerade weil alles offen ist in diesem Wahljahr: Ist dieser Wahlkampf deshalb besonders rau?

Faas: Ich wäre da vorsichtig. Mit Peer Steinbrück oder Helmut Kohl wurde auch nicht glimpflich umgegangen. Es gab immer schon "negative campaigning". Gleichwohl erleben wir eine gewisse Beschleunigung und Eskalationslogik, angefacht auch durch die sozialen Medien.

"Baerbock ist interessanter als Laschet oder Scholz"

tagesschau.de: Aber auffällig ist, dass sich die Angriffe auf Baerbock konzentrieren. Warum werden Laschet und Scholz nicht unter die Lupe genommen?

Faas: Baerbock ist derzeit die interessantere Person. Auch weil der eigene moralische Anspruch und die Vorwürfe gegen sie in krassem Gegensatz zueinander stehen. Zudem ist ihr Image noch nicht so ausdefiniert und gefestigt, wie bei den altbekannten Leuten wie Scholz oder Laschet. Da kann man also sehr schnell ein Bild von einer Person verändern. Und womöglich spielt auch der Faktor Frau eine Rolle.

tagesschau.de: Wird es irgendwann in diesem Wahlkampf auch um Inhalte gehen?

Faas: Bislang ist es ein Wahlkampf voller Widersprüchlichkeiten, das zeigt auch der aktuelle DeutschlandTrend. Da mag man dem Scholz das als Kanzler zutrauen, aber in Sachen Klimaschutz wäre das Kreuz bei den Grünen vielleicht besser. Bei der Union weiß man vielleicht, das Land ist in guten Händen, aber die FDP wäre vielleicht auch ganz gut in der Regierungskoalition. Spannend ist, welches Kriterium in der Wahlkabine ausschlaggebend ist. Sagt man: Es kommt mir auf den Kanzler, die Kanzlerin an oder entscheide ich inhaltlich? Also: Wähle ich die Grünen, obwohl Kandidatin Baerbock mich nicht überzeugt hat, ich aber Klimaschutz wichtig finde. Diese ganzen potenziellen Widersprüche, die man so im Kopf hat, müssen dann bis September sortiert werden. Und das wird noch hochspannend.

Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 01. Juli 2021 um 12:08 Uhr.