Ein Loch ist in der zersplitterten Glasscheibe eines Schaukastens mit einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte des Krankenhauses Moabit in Berlin.

Lagebild zum Antisemitismus "Gefahrenpotenzial ist drastisch gestiegen"

Stand: 27.05.2024 11:16 Uhr

Seit Beginn des Krieges in Nahost haben sich Fälle von Hasskriminalität mit antisemitischem Hintergrund in Deutschland verdoppelt. Das geht aus dem neuen Lagebild des Verfassungsschutzes hervor.

Von Michael Götschenberg, ARD Berlin, Holger Schmidt, SWR, ARD-Sicherheitsexperten

Es ist noch sehr viel schlimmer geworden - auf diese Formel lässt sich die aktuelle Analyse des Verfassungsschutzes zu Judenhass in Deutschland bringen. Knapp vier Jahre ist es her, seit das Bundesamt erstmalig ein Lagebild zum Antisemitismus präsentierte.

Die nun vorgelegte Fortschreibung umfasst den Zeitraum seither und beinhaltet damit nicht nur die Jahre der Corona-Pandemie, sondern auch die Entwicklung seit den Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober vergangenen Jahres sowie das militärische Vorgehen Israels in Gaza in der Folge.

Dabei führte insbesondere der 7. Oktober zu einer völlig neuen Situation, was auch die Zahlen zur politischen motivierten Kriminalität, die in der vergangenen Woche von Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesinnenministerium vorgestellt wurden, in bedrückender Weise dokumentiert.

2023 zählte das BKA 1.927 politisch motivierte Straftaten mit antisemitischem Hintergrund, von denen die allermeisten nach dem 7. Oktober begangen wurden. Insgesamt wurden im vergangenen Jahr 60.000 politisch motivierte Straftaten festgestellt - ein neuer Höchststand. Im Bereich der sogenannten Hasskriminalität verdoppelte sich die Zahl der Fälle mit antisemitischem Hintergrund auf mehr als 5.100.

"Diese Zahlen sollten uns alle beunruhigen"

"Diese Zahlen sollten uns alle beunruhigen", erklärt Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, anlässlich der Vorstellung des Lagebilds. Er spricht von einem "rasanten" Anstieg antisemitischer Straf- und Gewalttaten. "Das Gefahrenpotenzial für Menschen und Einrichtungen jüdischen Glaubens in Deutschland ist drastisch gestiegen."

Dabei stellt das aktuelle Lagebild des Verfassungsschutzes fest, dass Antisemitismus sich in allen Formen des Extremismus zeige, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Im Rechtsextremismus ist der Antisemitismus ohnehin seit jeher fest verankert.

Allerdings weist der Verfassungsschutz darauf hin, dass er mittlerweile oftmals "in der öffentlichen Kommunikation weniger in direkter Form, sondern vornehmlich in Andeutungen, Codes und Chiffren und insbesondere in Form von Verschwörungserzählungen" zum Ausdruck komme.

Grund dafür sei, dass rechtsextremistischen Akteurinnen und Akteuren der verschiedenen Szenen bekannt sei, "dass offene Judenfeindlichkeit in der Mehrheitsbevölkerung wenig Anklang" finde und man sich außerdem über die Gefahr juristischer Konsequenzen im Klaren sei.

Entfremdung von der Demokratie

Von zentraler Bedeutung seien in diesem Zusammenhang Verschwörungserzählungen, die niederschwellig antisemitische Denk- und Argumentationsmuster verbreiteten. Dabei sei im Zuge der Corona-Protestbewegung zu beobachten gewesen, wie gefährlich derartige Verschwörungsnarrative sind, da sie nicht nur in Extremistenkreisen verfingen, sondern "in die breite Gesellschaft ausstrahlten und dort Wirkung entfalten" konnten, heißt es im Lagebild: von einer Entfremdung von der Demokratie über "unverhohlene Verfassungsfeindlichkeit bis hin zu offenem Judenhass".

Von großer Bedeutung für die Verbreitung von Verschwörungsideologien sind demnach insbesondere die sozialen Medien. "Hier stellen wir Verschwörungstheorien und Falschmeldungen in immer größerem Ausmaß fest", sagt Verfassungsschutzchef Haldenwang. Das gelte für alle Bereiche des Extremismus.

Neben dem Rechtsextremismus ist Antisemitismus insbesondere auch zentraler Bestandteil islamistischer Ideologien. Seit Oktober vergangenen Jahres sei zu beobachten, dass islamistische Terrororganisationen wie der sogenannte Islamische Staat (IS), Al Kaida und andere dschihadistische Gruppen "in und außerhalb Israels sowie insbesondere zu Anschlägen gegen Jüdinnen und Juden weltweit" aufriefen - ungeachtet der Tatsache, dass es ideologische Differenzen mit der Hamas gebe.

Mit Sorge verweist der Verfassungsschutz auf "die Sogwirkung der Terrorakte der Hamas" und des militärischen Vorgehens Israels auf terroristische Organisationen mit einer globalen Agenda.

Vernichtung Israels als Ziel

Im Unterschied dazu handeln säkulare propalästinensische Extremisten nicht aus einer religiösen Motivation heraus, sondern einer politischen, nämlich der Vernichtung des Staates Israel. "Hinter vermeintlicher Kritik am israelischen Staat verbirgt sich nicht selten antisemitische Agitation", heißt es im Lagebild, da nicht zwischen dem Staat und der jüdischen Religionsgemeinschaft differenziert werde.

Diese Agitation war bei propalästinensischen Demonstrationen insbesondere seit Oktober 2023 auch in Deutschland zu erkennen. Dabei sei auch hier zu beobachten, stellt der Verfassungsschutz fest, dass Israelfeindschaft und Antisemitismus das verbindende Element zwischen Bewegungen und Gruppierungen mit sonst unterschiedlichen extremistischen Einstellungen seien.

Sollte sich die Lage im Nahen Osten weiter verschärfen, sieht der Inlandsnachrichtendienst die Gefahr, dass sich Personen, die sich als palästinensisch verstehen - in Deutschland sind das geschätzt bis zu 225.000 Menschen - vom deutschen Staat und der deutschen Gesellschaft entfremden.

"Im Kern antisemitische Begriffe" im Linksextremismus

Antisemitismus ist nach Einschätzung des Verfassungsschutzes zwar "kein elementarer Bestandteil der linksextremistischen Ideologie". Allerdings würden im antiimperialistischen Spektrum Begrifflichkeiten verwendet, die von Organisationen wie der Hamas stammten und "im Kern antisemitisch" seien. Außerdem solidarisiere man sich mit extremistischen Palästinenserorganisationen.

Im Falle einer weiteren Eskalation des Nahostkonflikts sei deshalb nicht auszuschließen, dass es zu "Aktionen an oder vor israelischen Einrichtungen" kommen könne, bis hin zu Sachbeschädigungen.