Migranten aus Subsahara-Afrika halten eine Mahnwache vor dem UNHCR-Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen ab.
Kontext

Desinformation in Tunesien Staatlich legitimierte Gewalt gegen Migranten

Stand: 18.07.2023 20:17 Uhr

In Tunesien gibt es seit Wochen gewaltsame Übergriffen auf schwarze Migranten. Angeheizt wird die Gewalt durch Falschinformationen, die in den sozialen Netzwerken verbreitet werden - unter anderem vom Präsidenten.

Von Alice Pesavento für tagesschau.de

Nach dem Tod eines 42-jährigen Mannes kommt es seit Anfang des Monats in der tunesischen Hafenstadt Sfax erneut zu Auseinandersetzungen zwischen Tunesiern und Migranten aus Ländern südlich der Sahara. Die tunesischen Behörden machen drei Männer aus Kamerun für den Tod des Tunesiers verantwortlich. Sie sollen ihn erstochen haben.

Einige Bürger greifen Migranten seitdem immer wieder auf offener Straße gewaltsam an, beschimpfen sie oder vertreiben sie gewaltsam aus ihren Wohnungen. Andere versuchen zu helfen und verteilen Wasser und Essen an die Männer, Frauen und Kinder, von denen viele seit Wochen nur auf der Straße einen Schlafplatz finden können.

Präsident verbreitet Verschwörungserzählungen

Bestärkt wird der Hass gegen Migranten durch Desinformation in den sozialen Netzwerken. Bereits Ende Februar diesen Jahres hatte der tunesische Präsident Kais Saied eine Welle der Gewalt gegen Migranten ausgelöst, nachdem er in einem Statement behauptete, "Horden illegaler Migranten" würden nach Tunesien strömen, mit dem Ziel, "die demografische Zusammensetzung des Landes zu verändern" und seine arabisch-muslimische Identität zu zerstören. Bestimmte Parteien würden dafür riesige Geldsummen bekommen und die Migranten würden "Gewalt, Kriminalität und inakzeptable Praktiken, die damit einhergehen", ins Land bringen.

Zahlen des nationalen Statistikinstituts zufolge lebten in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt nur rund 21.000 Migranten aus Ländern südlich der Sahara in Tunesien. Die Tatsache, dass der Präsident vor dem Hintergrund dieser Zahlen von "Horden illegaler Migranten" spricht, nennt Monica Marks, Assistenzprofessorin für Nahostpolitik an der New York University in Abu Dhabi, eine "gravierende Verzerrung der Realität".

Saied versuche mit Erzählungen über Migranten wie dieser, "falsche Bedrohungen für Tunesien herbeizureden", um "die Menschen von der schwierigen Realität abzulenken, in der sie leben", so Marks. Denn in Tunesien verschlechtere sich die wirtschaftliche Situation immer weiter und Saied schränke seit rund zwei Jahren die politischen Freiheiten seiner Bürger zunehmend ein.

"Dann eskalierte die Situation im wirklichen Leben"

Laut Zyna Mejri, Gründerin des tunesischen Faktencheck-Kollektivs Falso, hat Saied mit seinen Aussagen die Hetze gegen Migranten im Land vervielfacht. "Mit diesem Statement gab der Präsident den Leuten grünes Licht, rassistisch zu sein." Erst sei online gegen Migranten gehetzt worden "und dann eskalierte die Situation auch im wirklichen Leben", sagt sie.

Zwischenzeitlich war die Gewalt so groß, dass sich Medienberichten zufolge viele Migranten, aber auch schwarze Tunesier, die etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht mehr trauten, ihre Häuser zu verlassen. Auch Mitglieder der Zivilgesellschaft wurden demnach verbal angegriffen, weil sie sich für die Migranten im Land einsetzten und Demonstrationen und Spendenaktionen organisierten.

Im vergangenen Jahr noch hatte Saied ein Gesetz erlassen, das die Verbreitung von Falschinformationen unter Strafe stellt. Menschen, die unter diesem Gesetz angeklagt werden, drohen bis zu zehn Jahre Haft. Bisher sind davon vor allem Anwälte und Journalisten betroffen. Für die Verbreitung von Falschinformationen über Migranten wurde noch niemand angeklagt.

Desinformation mit Videos aus anderen Ländern

Kurz nach der Veröffentlichung des Februar-Statements durch den Präsidenten registrierte Mejris Organisation Falso einen starken Anstieg an Falschinformationen über Migranten in den sozialen Netzwerken. "Davor hatten solche Videos nur ein paar Tausend Aufrufe und Likes auf TikTok, danach sahen wir Millionen von Likes, Shares und negativen Kommentaren", sagt Mejri.

Die Accounts, von denen Mejri spricht, teilen Videos, die angeblich Migranten in Tunesien zeigen. In manchen dieser Videos sind wütend demonstrierende Menschenmengen zu sehen und auf Schriftzügen, die nachträglich in die Videos eingeblendet wurden, stehen Dinge wie "Tunesien unter Besatzung" oder "Tunesien ist das Königreich der Afrikaner geworden". In anderen Videos ist laut den Accounts, die sie verbreiten, zu sehen, wie sich große Gruppen von Migranten auf den Weg nach Tunesien machen - einige von ihnen sind sogar bewaffnet.

Analysen der BBC zeigen jedoch, dass diese Videos gar nicht in Tunesien, sondern unter anderem im Senegal und im Sudan aufgenommen wurden. In ihnen sind auch keine Migranten in Tunesien zu sehen, sondern andere Ereignisse. Ein Video zeigt beispielsweise eine Demonstration in Dakar, der Hauptstadt des Senegal. Zu erkennen ist das an einem markanten Obelisken, der im Video zu sehen ist. Auch die senegalesische Flagge ist zu sehen. Viele Nutzer übersehen diese Details aber und glauben den Überschriften, die behaupten, das Video würde eine große, wütende Gruppe von Migranten in Tunesien zeigen.

Verschwörungserzählung vom "Großen Austausch"

Begonnen haben die Falschinformationen und Verschwörungerzählungen über Migranten in Tunesien schon im Jahr 2018, als sich die Tunesische Nationalistische Partei gründete, sagt Mejri. Im Jahr 2022 schrieb diese Partei sogar einen Bericht über die rassistische Verschwörungserzählung des "Großen Austauschs" durch Migranten aus Subsahara Afrika in Tunesien. 

Dieser Erzählung zufolge würden "Europäer und US-Amerikaner schwarze Menschen benutzen, um Tunesien zu kolonisieren, so wie sie angeblich Juden benutzt haben, um Palästina zu kolonisieren", sagt Marks. "Das ist natürlich eine absurde Erzählung, aber es ist eine Erzählung, die der tunesische Präsident selbst auf die höchste Ebene gehoben hat."

Denn wenige Wochen nachdem die Tunesische Nationalistische Partei ihren Bericht Ende letzten Jahres an Präsident Saied geschickt hatte, übernahm er die Inhalte des Berichts in seinem Februar-Statement. "Jede Aussage und jeder Satz, der in der Erklärung des Präsidenten enthalten ist, ist genau so auch im Bericht der Tunesischen Nationalistischen Partei enthalten", sagt Mejri.

Abschiebungen in die Wüste

Die Haltung des Präsidenten spiegelt sich auch im Umgang der tunesischen Sicherheitskräfte mit den Migranten wider: Seit Anfang des Monats haben sie Hunderte von ihnen ohne rechtliche Verfahren oder Vorankündigungen in Bussen in eine abgelegene, militarisierte Pufferzone an den Grenzen zu Libyen und Algerien abgeschoben. Laut der Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch waren unter den betroffenen Migranten schwangere Frauen, Kinder, sowie Personen mit sowohl regulärem als auch irregulärem Aufenthaltsstatus. 

"Menschen mitten in der Wüste abzuladen, ohne Zugang zu Straßen, Unterkünften, Schatten, Nahrung oder Wasser, ist eine Form staatlich autorisierter Gewalt, die im Widerspruch zu grundlegenden Menschenrechten steht", sagt Marks. Einige Migranten sollen bereits an den Grenzen zu Libyen und Algerien gestorben sein, genaue Zahlen sind aber nicht bekannt, weil sie sich in einer sehr abgelegenen und schwer zugänglichen Zone befinden. Einige Hundert Migranten wurden vom Roten Halbmond wieder zurück nach Tunesien gebracht.

Präsident Saied veröffentlichte auf Facebook ein Statement dazu, in dem er sagte, dass "die Migranten eine humane Behandlung (...) im Einklang mit den Werten Tunesiens" erfahren würden und die tunesischen Sicherheitskräfte sie schützen würden. Auch dementierte er die in den sozialen Netzwerken geteilten Fotos und Videos, die Migranten in Notsituationen zeigen, und behauptete, dass "kolonialistische Kreise und ihre Agenten (...) falsche Informationen verbreiten".

Die Rolle der EU

Marks sagt, dass viele der Migranten, die in Tunesien leben, das Land aufgrund der für sie so gefährlichen Situation so schnell wie möglich verlassen möchten. Dabei sähen sie oft nur einen Ausweg: Über das Mittelmeer weiter nach Europa. Denn oftmals ist es für sie aus verschiedenen Gründen nicht möglich, in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Der Weg über das Mittelmeer ist lebensgefährlich und die gefährlichste Fluchtroute der Welt. In den ersten fünf Monaten diesen Jahres sind bei diesem Versuch 534 Menschen gestorben oder verschwunden. Und: Dieser Weg wird immer schwieriger. Denn trotz der vielen Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Tunesien hält die EU weiterhin an Kooperationen mit dem Land auch im Bereich der Migrationspolitik fest. 

Erst am Wochenende haben die EU und Tunesien eine Absichtserklärung unterzeichnet, um die Migration über das Mittelmeer einzuschränken. Insgesamt soll Tunesien rund 900 Millionen Euro Unterstützung von der EU bekommen. Davon sind 100 Millionen Euro für "Grenzmanagement" bestimmt, damit weniger Migranten von Tunesien nach Italien kommen.

Ausgestattet und trainiert wird die tunesische Küstenwache unter anderem von der EU und einzelnen Mitgliedsstaaten wie Deutschland. Ahlam Chemlali vom Danish Institute for International Studies (DIIS) findet diesen einseitigen Fokus der EU-Politik alarmierend: "Die EU ist mehr daran interessiert, Boote mit Migranten aufzuhalten, als Menschenleben auf See zu retten und die Menschenrechte zu achten."

Auch Marks kritisiert das Migrationsabkommen zwischen der EU und Tunesien scharf. Sie sagt, die EU würde dadurch "die rassistische Gewalt und den brutalen Faschismus" der tunesischen Regierung teilweise mitfinanzieren. "Denn die oberste Priorität der EU in Tunesien besteht darin, die Migration zu stoppen, ganz egal, was Saied tut."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 18. Juli 2023 um 13:59 Uhr.