Sea-Watch: Flüchtlinge im Mittelmeer

Flucht über das Mittelmeer Keine Beweise für Vorwürfe gegen NGO

Stand: 27.06.2017 14:00 Uhr

Freiwillige Helfer auf dem Mittelmeer: Beinahe täglich retten sie Migranten in Seenot auf dem Weg nach Europa. Dafür ernten sie viel Kritik. Von Kooperation mit Schleppern ist unter anderem die Rede. Beweise dafür gibt es nicht.

Von Von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Rom

Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird vorgeworfen, ihre Präsenz auf dem Mittelmeer zur Rettung von Migranten sorge dafür, dass sich immer mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. Fachleute nennen diesen Ansatz die "Pull-Factor-Theorie". Der Vorwurf ist nicht neu und war ursprünglich nicht nur gegen die NGO gerichtet. Von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex wurde er bereits in Bezug auf die italienische Rettungsmission Mare Nostrum erhoben.

Gil Arias, der damalige stellvertretende Frontex-Chef, sagte am 4. September 2014 im Justizausschuss des Europaparlaments, dass "die Schleuser mehr Menschen auf See schicken, in der Annahme, sie würden schon bald gerettet. Das sei billiger für sie, denn sie bräuchten weniger Treibstoff, weniger Essen, weniger Wasser, was gleichzeitig aber auch die Risiken für die Migranten erhöht". Dieser Vorwurf wird nun den NGO auf dem Mittelmeer gemacht, und zwar nicht nur von Frontex sondern auch von Politikern aus ganz Europa.

Wie hat sich die Situation auf der Flüchtlingsroute verändert?

Die zentrale Mittelmeerroute von der libyschen Küste nach Italien ist spätestens seit der Schließung der Balkanroute wieder der wichtigste Weg für Migranten nach Europa. Gleichzeitig ist sie die gefährlichste Migrationsroute der Welt: 2015 kamen laut "Missing Migrants", einem Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM), 153.842 Migranten auf diesem Weg nach Europa, 2892 Menschen ließen bei der Überfahrt ihr Leben, sind ertrunken oder erstickt. 2016 waren es bei 181.436 Ankünften über die zentrale Mittelmeerroute 4581 Tote. Ein Trend, der sich auch im laufenden Jahr fortsetzt.

Vor einigen Jahren erreichten noch viele Boote, meist aus Holz, das italienische Festland. Dabei kam es auch in unmittelbarer Küstennähe immer wieder zu Katastrophen, von denen als schlimmste das Unglück von Lampedusa gilt: Am 3. Oktober 2013 starben etwa 900 Meter vor der Küste mindestens 368 Menschen.

Inzwischen aber finden die meisten Rettungseinsätze an der Grenze zu den libyschen Hoheitsgewässern statt. Die Migranten brechen von Nordafrika meist in minderwertigen Schlauchbooten auf, in die Schleuserbanden zu viele Menschen pferchen. Das erhöht den Gewinn und macht die Route immer tödlicher. Seit die Schleuserbanden unter anderem von Einsatzkräften der Operation "Sophia" verfolgt und die Flüchtlingsboote zum Großteil vernichtet werden, investieren die Schleuser immer weniger in die Boote und wagen sich selbst in der Regel nicht mehr auf hohe See hinaus.

Flüchtlinge springen in der Nähe von Sizilien von einem kenternden Boot. Dieses Foto wurde im Mai von der italienischen Marine veröffentlicht.

Flüchtlinge springen in der Nähe von Sizilien von einem kenternden Boot. Dieses Foto wurde im Mai 2016 von der italienischen Marine veröffentlicht.

Inzwischen wird mehr als die Hälfte der Migranten von Nichtregierungsorganisationen (NGO) gerettet, die zurzeit mit rund neun Schiffen im Einsatz sind. Diese Schiffe sind höchst unterschiedlich ausgestattet: Einige können Hunderte Migranten aufnehmen und italienische Häfen ansteuern, um sie an Land zu bringen. Andere haben nur Schwimmwesten und schwimmende Inseln an Bord, mit denen die Retter versuchen, das Ertrinken von Menschen zu verhindern.

Der Anteil der NGO an der Rettung von Migranten auf dem Mittelmeer ist in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen: 2014 retteten NGO "nur" 1450 Migranten (0,87%), 2015 waren es 20.063 (13,17%) und 2016 schließlich 46.796 Migranten (26,23%). Inzwischen, das belegen Zahlen für die ersten Monate von 2017 aus dem Verteidigungsausschuss des italienischen Senats, bringen NGO mehr als die Hälfte der Migranten, die Europa erreichen, in Sicherheit.

Warum sind die NGO auf dem Mittelmeer im Einsatz?

Nach dem Unglück von Lampedusa im Oktober 2013 setzte Italien die Operation Mare Nostrum in Gang, um Migranten zu retten und die Schleuserkriminalität zu bekämpfen. Die Mission dauerte bis Ende Oktober 2014, in dieser Zeit wurden laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) etwa 150.000 Menschen gerettet. Auch weil es in diesen Monaten nicht gelungen war, die Lasten der Operation auf europäische Schultern zu verteilen, wurde Mare Nostrum nach etwas mehr als einem Jahr eingestellt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bezeichnete diesen Schritt schon wenige Monate darauf als einen schweren Fehler, denn: "er kostet Menschenleben". Wenige Tage zuvor - am 12. und 18. April 2015 - waren bei zwei Schiffsunglücken mehr als 1200 Menschen ertrunken.

Die Lücke, die Mare Nostrum hinterlassen hatte, wurde nach und nach von NGO gefüllt, die mit Spendengeldern und großem Einsatz von freiwilligen Helfern Schiffe ausrüsteten, um weitere Unglücke zu verhindern. Wichtig ist festzustellen, dass die Schiffe der NGO seitdem nicht auf eigene Faust operieren, sondern vom Maritime Rescue Coordination Center in Rom (MRCC) zu den Einsatzorten und gegebenenfalls in italienische Häfen geordert werden.

Sea-Watch: Flüchtlinge im Mittelmeer

Mittlerweile sind die NGO bei der Rettung von Migranten der wichtigste Akteur. Die Schiffe oder Überwachungsflugzeuge und Hubschrauber von militärischen und Polizei-Missionen, wie "Sophia", Triton als Frontex-Operation oder Mare Sicuro als rein italienischer Einsatz, sind zwar ebenfalls vor der Küste Nordafrikas aktiv, sind aber keine reinen Rettungsmissionen und sollen vor allem die Schleuserkriminalität bekämpfen.

Inzwischen berichten die Nichtregierungsorganisationen von einem sukzessiven Rückzug der militärischen oder polizeilichen Einheiten von den Rettungseinsätzen. Stattdessen wird die libysche Küstenwache mit Waffen und Schiffen ausgestattet. Diese Einheit, die zum Teil aus Milizen hervorgegangen ist, dient mittlerweile als Vorposten Europas, spielt aber eine höchst ambivalente Rolle: mehrmals schon behinderten Einsatzkräfte der libyschen Küstenwache Rettungsaktionen und brachten Migranten in Gefahr, setzten Schusswaffen ein und brachten Flüchtlinge medienwirksam wieder zurück nach Libyen - in Fachkreisen "pull back" genannt.

Ohne die libysche Küstenwache explizit zu nennen, geht auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex davon aus, dass hochrangige Offiziere verschiedener militärischer Einheiten in Libyen an den Operationen und Geschäften der Schleuserbanden beteiligt sind. Es ist anzunehmen, dass die Küstenwache dazu gehört.

Sorgen die Einsätze der NGO für mehr Flüchtlinge?

Eine Forschungsgruppe des Goldsmith-College der University of London hat den Vorwurf in zwei Studien überprüft: So konnte die Pull-Factor-Theorie für 2014/15 widerlegt werden, weil auch nach dem Ende von Mare Nostrum die Zahl einiger Migrantengruppen auf der zentralen Mittelmeerroute anstieg.

Dass 2015 im Vergleich zu 2014 insgesamt zehn Prozent weniger Migranten die zentrale Mittelmeerroute wählten, hängt mit der Balkanroute zusammen. Seit ihrem Bestehen geht die Zahl der syrischen Flüchtlinge auf der zentralen Route über das Mittelmeer gegen Null. Die Zahl der ost- und westafrikanischen Flüchtlinge, die heute den Großteil der Migranten auf dem Weg von Libyen nach Europa stellen, ist hingegen stetig angestiegen: 2015 kamen 42% mehr Menschen aus Ländern wie Eritrea, dem Sudan, Nigeria oder Mali als 2014.

Dieser Anstieg war bereits im Gange, bevor die NGO in großem Stil aktiv wurden. Die Gründe, warum sich die Migranten aus Staaten südlich der Sahara auf den Weg machen, sind auch laut Frontex nicht die NGO auf dem Mittelmeer, sondern im Fall von Ostafrika "regionale Sicherheitsprobleme, eine langsame wirtschaftliche Entwicklung und fehlende langfristige Lebensperspektiven für Flüchtlinge in der Region".

Im Nordosten Nigerias sind inzwischen weit mehr als zwei Millionen Menschen auch wegen ständiger Angriffe von radikalen islamistischen Gruppen wie Boko Haram zu Binnenflüchtlingen geworden. Viele dieser Menschen sehen keine Perspektive mehr im eigenen Land und haben sich in Richtung Norden aufgemacht. Viele schon, bevor die NGO auf dem Mittelmeer aktiv wurden.

Ein weiterer Grund, warum sich immer mehr Migranten auf den Weg machen, sind die Zustände in Libyen - dokumentiert unter anderem von der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Viele begeben sich auf die gefährliche Überfahrt nach Europa, weil sie Folter, Vergewaltigungen und sonstige unhaltbare Lebensbedingungen dort nicht mehr aushalten. Für die Wissenschaftler der University of London verlockt also nicht die Präsenz der NGO die Migranten zur Flucht nach Europa, sondern die NGOs reagieren mit ihrer Präsenz auf die sich verstärkenden Migrationsbewegungen aus oben genannten Gründen.

Gibt es eine Zusammenarbeit von NGO und Schleppern?

Festzuhalten ist, dass es eine gewisse Interessenskonvergenz gibt: Die Schleuserbanden haben kein Interesse an vielen Toten auf dem Mittelmeer, weil ihnen das auf Dauer das Geschäft zerstört. Gleichzeitig wollen die NGO mit ihren Einsätzen möglichst viele Menschenleben retten.

Eine direkte Kooperation zwischen den NGO und den Schleuserbanden kann aber, entgegen einiger anderslautender Berichte, bislang nicht nachgewiesen werden. Carmelo Zuccaro, Staatsanwalt in Catania, hatte genau das im April öffentlich behauptet: "Wir haben Beweise dafür, dass es direkten Kontakt zwischen einigen NGOs und Schleusern in Libyen gibt." Diese Beweise legte er bisher aber nicht vor, auch nicht in einer Anhörung durch den Senat.

Einige Staatsanwälte in Italien gehen diesem Verdacht erklärtermaßen nach. Zur formellen Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens reicht es aber bisher offensichtlich nicht. Auch der libysche Oberst Tarek Shanboor, der laut der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die Einsatzzentrale zum Kampf gegen irreguläre Migration an Land und auf See des libyschen Verteidigungs- und Innenministeriums leitet, erhob gerade erst schwere Anschuldigungen: Wie die britische Zeitung "Daily Mail" berichtete sollen NGO Shanboor zufolge den Schleppern für die Überfahrt eines Migranten bis zu 500 Euro zahlen. Auch er blieb Beweise hierfür bislang schuldig. Die Anschuldigung diente aber dazu, die Arbeit der NGO weiter zu diskreditieren und die Organisationen selbst zu delegitimieren.

Der Verteidigungsausschuss des Italienischen Senats kam nach langen Anhörungen zu dem Ergebnis, es gebe keine Beweise für Verbindungen zwischen den Schleuserbanden und den NGO.

Tausende Tote auf dem Mittelmeer: Was kann getan werden?

Angesichts Tausender Toter auf dem Mittelmeer muss die Frage gestellt werden, welche Alternativen es gibt: Migration nach Europa auf der zentralen Mittelmeerroute ist trotz der vielen Opfer längst keine Krisensituation mehr, sondern Alltag. Die Abschottung Europas hat bislang nicht funktioniert. Sie führte nur dazu, dass die Migranten in ihrer Verzweiflung und die Schleuserbanden aus Profitgier das Risiko erhöhen und noch mehr Tote in Kauf nehmen.

Flüchtlinge im Mittelmeer

Wo sich staatliche Institutionen zurückziehen, leisten die NGO wertvolle Arbeit, um Menschenleben zu retten. Diese Arbeit ist offenbar notwendig, solange es im Kampf gegen die Fluchtursachen von Menschen in Afrika keine nennenswerten Fortschritte gibt. Der vermutlich beste Weg, um das brutale Geschäft der Schleuser zu zerstören, wären legale Wege für Migranten nach Europa. Das aber setzt voraus, dass man schon vor den Grenzen entscheidet, wer schutzbedürftig ist.

Jan-Christoph Kitzler, J.-C. Kitzler, ARD Rom, 27.06.2017 15:29 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 26. Juni 2017.