Ausschreitungen vor dem US-Kapitol
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Angriff auf das Kapitol Keine Attacke "unter falscher Flagge"

Stand: 12.01.2021 12:17 Uhr

Angetrieben von Lügen über einen angeblichen Wahlbetrug stürmten Trump-Anhänger das Kapitol, veröffentlichten Videos und Fotos davon. Kurz darauf hieß es, der Angriff sei von Linken ausgegangen. Belege dafür gibt es nicht.

Von Patrick Gensing und Silvia Stöber, Redaktion ARD-faktenfinder

Ein Artikel sorgte kurz nach dem Erscheinen für viel Aufsehen: Die "Washington Times" vermeldete, einige Angreifer im Kapitol seien angeblich als Antifa-Aktivisten identifiziert worden. Zwar lieferte das Blatt keine nachvollziehbaren Belege - doch die Behauptung einer vermeintlichen Aktion "unter falscher Flagge" war in der Welt - und verbreitete sich rasant. Rechte Medien wie One America News Network, Fox News und Newsmax TV berichteten über die vermeintlichen Enthüllungen der Zeitung, das Schlagwort Antifa tauchte massenhaft auf den Kurzmitteilungsdiensten Twitter und Parler auf, republikanische Abgeordnete im Repräsentantenhaus griffen die Erzählung von Linksradikalen, die sich als Trump-Anhänger verkleidet hätten, ebenfalls auf.

Auch in Europa verbreiteten radikale Trump-Anhänger solche Behauptungen. Die britische "Daily Mail" berichtete ausführlich über die Behauptungen, ohne auf fehlende Belege oder Plausibilität hinzuweisen.

Zahlreiche Angreifer identifiziert

Mittlerweile ist die vermeintliche Enthüllung auf den Seiten der "Washington Times" verschwunden, da der Bericht komplett falsch sei, wie US-Medien berichten. Zudem wurden diverse Angreifer identifiziert und verhaftet. Kein einziger davon wird der linksradikalen Szene zugerechnet, sondern es handelt sich um bekannte Trump-Anhänger und QAnon-Aktivisten.

Für viel Aufsehen sorgte ein Mann mit nacktem Oberkörper, der beim Sturm des Kapitols eine Fellmütze mit Hörnern trug. Dabei handelt es sich um Jacob Chansley aus Arizona, wie das US-Justizministerium mitteilte. Er tritt unter dem Namen Jake Angeli und als "QAnon-Schamane" auf.

Ein Trump-Anhänger, der am Angriff auf das Kapitol teilnahm.

Verhaftet wurde auch ein Doug Jensen, der auf Twitter für Trump wirbt und ein Foto von sich im Kapitol veröffentlichte. Dadurch konnten die Behörden ihn leicht identifizieren.

Identifiziert wurde zudem ein republikanischer Politiker aus West Virginia. Derek Evans streamte über Facebook, wie er mit anderen Angreifern in das Kapitol gelang. Er legte sein Mandat mittlerweile nieder. In seinem Video war zu sehen, wie er im Kapitol ruft "Wir sind drin, wir sind drin - weiter geht es!". Zudem feuerte er andere Angreifer an, Sicherheitskräfte aus dem Weg zu drängen.

Auch der Mann, der ein Rednerpult wegtrug, wurde schnell identifiziert: Es handelt sich um einen Mann aus Florida. Auf Social Media verunglimpfte er laut Medienberichten die Black-Lives-Matter-Bewegung.

Richard Barnett, Schusswaffen-Befürworter aus Arkansas, hatte sich im Büro der Demokratin Nancy Pelosi fotografieren lassen. Er stellte sich dem FBI und soll nun wegen Eindringens in ein besonders gesichertes Gebäude, Hausfriedensbruch, Vandalismus und Diebstahl angeklagt werden, wie ein leitender Vertreter des Justizministeriums erklärte.

Trump-Anhänger im Büro von Nancy Pelosi

Trump-Anhänger im Büro der Demokratin Pelosi.

Insgesamt wurden Dutzende Angreifer mittlerweile identifiziert, es ist nicht bekannt, dass es auch nur einen Hinweis auf linke Aktivisten gebe. Zudem berichteten Reporterinnen und Augenzeugen übereinstimmend, es habe sich eindeutig um Trump-Anhänger gehandelt.

Aufrührer in Militärkleidung

Die Angreifer waren zudem offenkundig weit besser organisiert, als es zunächst schien. Auffällig waren mehrere Personen in Militärkleidung. Im Senatssaal zum Beispiel wurde ein Mann mit Kampfhelm und Schutzweste fotografiert. In der linken Hand trug er Plastikschlingen, wie sie die Polizei bei Festnahmen verwendet. Er wurde auch vor dem Büro von Pelosi gefilmt.

Der Forscher John Scott-Railton von der Munk School der Universität Toronto identifizierte ihn gemeinsam mit Unterstützern in den sozialen Medien unter anderem anhand von Aufnähern als einen pensionierten Oberstleutnant, Absolvent der Air Force Academy in Texas, der an Auslandseinsätzen teilgenommen hatte.

Demonstranten betreten die Senatskammer am 06. Januar 2021 in Washington, DC.

Er habe in den vergangenen Jahren zunehmend radikale Ansichten entwickelt und sich rassistisch geäußert, berichteten ein ehemaliger Kamerad und Angehörige des Ex-Militärs der Zeitschrift "New Yorker". Der 53-Jährige aus Dallas bestätigte selbst, im Kapitol gewesen zu sein, behauptete aber, keine Gewalt gesehen zu haben. Die Plastikschlingen habe er am Boden gefunden und sie einem Polizisten geben wollen, sagte er weiter. Die Kampfausrüstung habe er zum Schutz vor der Antifa getragen. Inzwischen wurde der Mann in Texas festgenommen und vor einem Bundesgericht angeklagt.

Trump-Unterstützer und Waffennarr

Ein anderer Mann in Tarnkleidung und Schutzweste hatte ebenfalls eine Handvoll solcher Plastikschlingen bei sich. Recherchen von Scott-Railton ergaben, dass der Aufrührer aus Nashville stammt und in den sozialen Medien als Trump-Unterstützer und Waffennarr auftrat.

Der 30-Jährige wurde ebenso festgenommen. Nach Behördenangaben fanden sich mehrere Waffen bei ihm. Er war mit seiner Mutter nach Washington gereist. Die 57-Jährige sagte laut Medienberichten, sie wolle eher kämpfen und sterben als in Unterdrückung zu leben.

Einige Eindringlinge trugen Militäruniform und hatten Kabelbinder dabei, wie sie die Polizei bei Festnahmen verwendet.

Einige Eindringlinge trugen Militäruniform und hatten Kabelbinder dabei, wie sie die Polizei bei Festnahmen verwendet.

Organisiert wie in einer Befehlskette

Ein von einer Fotojournalistin veröffentlichtes Video zeigt inmitten der demonstrierenden Menge auf den Treppen des Kapitols eine geordnete Reihe von Männern hintereinander die Stufen hochsteigen, die sich mit einer Hand an der Schulter des Vordermanns festhalten. Sie tragen ebenso Tarnkleidung, Kampfhelme, Schutzwesten und Rucksäcke. Zwei Männer mit roten Trump-Kappen winken nach unten, als ob sie Mitstreiter zum Folgen auffordern würden.

Auf dem Video zu erkennen sind Abzeichen der "Oath Keepers", einer radikalen, militaristischen Organisation ehemaliger Militärs und Sicherheitsbeamter. Deren Anführer Stewart Rhodes sagte der "Los Angeles Times", seine Mitglieder seien nicht in das Kapitol eingedrungen, sie hätten mit den Polizisten auf der Straße gesprochen und ihnen nahegelegt, sich den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu verweigern. Er behauptete wie Trump, die Wahl sei gestohlen worden, das Volk habe keine legitime Vertretung mehr.

Die Armee untersucht laut einem Bericht der Nachrichtenagentur AP zudem den Fall einer Militärpsychologin, die nach eigenen Angaben mit 100 Mitstreitern nach Washington gekommen war, um gegen Wahlbetrug und für Trump zu demonstrieren. Sie habe sich dabei an die Regeln für Militärangehörige gehalten.

Laut Aussage eines Militärsprechers dient die Frau in Fort Bragg in der "4. Psychological Operations Group". Diese Abteilung ist für psychologische Kriegsführung zuständig, also für Methoden und Maßnahmen zur Beeinflussung des Verhaltens und der Einstellungen gegnerischer Streitkräfte. Die Frau geriet AP zufolge schon einmal in die Schlagzeilen wegen eines Videos, in dem sie das Absperrband eines Spielplatzes herunterreißt, das als Maßnahme gegen Covid-19 angebracht worden war.

Nach Angaben eines Beamten aus dem Verteidigungsministerium könnten Soldaten aus dem aktiven Dienst oder der Reserve am Aufruhr beteiligt gewesen sein. Dies werde gegebenenfalls untersucht.

Hammer-und-Sichel-Tätowierung?

Im Netz wurde immer wieder behauptet, ein Mann im Kapitol habe eine Hammer-und-Sichel-Tätowierung auf der Hand, es handele sich daher mutmaßlich um einen Linksextremen. Tatsächlich handelt es sich bei dem Symbol offenkundig um das Logo des sogenannten Outsiders aus dem Videospiel Dishonored.

Trump-Unterstützer, die mit Flaggen und Kostümen in das Kapitol eingedrungen sind.

Der Mann links im Bild trage angeblich eine Hammer-und-Sichel-Tätowierung, hieß es. Auch diese Behauptung lässt sich nicht belegen.

Falscher Vorwurf gegen Polizisten

Falsch wurde hingegen oft ein Video interpretiert, das zeigt, wie Trump-Anhänger eine Absperrung durchbrechen. Auf einer kurzen Sequenz wirkt es so, als öffneten Polizisten die Absperrung. Der Reporter, der die Szene filmte, stellte allerdings klar, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Vielmehr hätten die Trump-Anhänger die Absperrung durchbrochen, die Sicherheitskräfte hätten sich daraufhin zurückgezogen.

Eindeutige Faktenlage

Der Sturm auf das Kapitol wurde von Anhängern von Präsident Trump ausgeführt. Die Behauptung, es habe sich um eine Aktion "unter falscher Flagge" gehandelt, ist weder plausibel, noch gibt es Belege dafür.

Im Gegenteil: Angreifer brüsteten sich öffentlich mit der Aktion und übertrugen diese live im Netz. Dutzende identifizierte Trump-Anhänger, Videoaufnahmen und Fotos sowie übereinstimmende Berichte von Augenzeugen beweisen, dass die unbelegten Behauptungen über einen Angriff durch Antifa-Aktivisten lediglich erfunden wurden, um abzulenken und die Öffentlichkeit zu verwirren. Es handelt sich somit um gezielte Desinformation.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 12. Januar 2021 um 21:42 Uhr.