Polizisten während der Ausschreitungen im Hamburger Schanzenviertel

Nach Hamburger G20-Gipfel Viele Fragen sind noch offen

Stand: 15.07.2017 16:10 Uhr

Die Krawalle und der Polizeieinsatz beim G20-Gipfel in Hamburg haben eine heftige politische Debatte ausgelöst. Doch noch ist nicht abschließend geklärt, wie viele Verletzte es eigentlich gab, wie hoch die Schäden sind, wer an den Ausschreitungen beteiligt war - und ob es möglicherweise Fehler bei dem Einsatz der Polizei gegeben hat. Die Nachbereitung läuft - und viele Fragen sind noch offen.

Von Von Christian Baars, Andrej Reisin, NDR & Patrick Gensing, tagesschau.de

Wie viele verletzte Polizisten gab es?

Laut Polizeiangaben wurden bei dem Großeinsatz zwischen dem 22. Juni und dem 9. Juli insgesamt 476 Polizisten verletzt. Viele von ihnen wurden wegen Dehydrierung oder Kreislaufproblemen als verletzt gemeldet. Aber es gibt auch Verletzungen durch Stein- und Flaschenwürfe und Einsatz von Pyrotechnik. "Mehrere" Polizisten seien zudem durch Zwillengeschosse verletzt worden, wie die Polizei via Twitter meldete.

Laut Recherchen von Buzzfeed sind in der "heißen Einsatzphase" - von Donnerstag bis Sonntag - 231 Polizisten verletzt worden, 21 von ihnen so schwer, dass sie auch noch am Folgetag oder länger nicht einsatztauglich waren. Offiziell als schwer verletzt gelten demnach zwei Beamte der Bundespolizei.

Rund 130 Polizisten aus Hessen wurden dabei laut Hessischem Rundfunk (HR) durch den Einsatz von Reizgas leicht verletzt. Die Angaben waren allerdings widersprüchlich: Zunächst waren Beobachter davon ausgegangen, dass die Polizisten infolge von polizeilich eingesetztem Reizgas verletzt wurden. Laut hessischem Innenministerium jedoch soll das Gas durch "Störer" eingesetzt worden sein. Rafael Behr, Professor an der Akademie der Polizei in Hamburg, äußerte gegenüber Buzzfeed Zweifel an dieser These: "Mit höchster Wahrscheinlichkeit" hätten "die Autonomen die Geschosse mit dem Reizstoff" wieder zurück geworfen.

Zwei Hubschrauberpiloten wurden durch Laserpointer geblendet. Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich laut "Hamburger Morgenpost" aber nicht um einen Linksextremisten, sondern um einen Familienvater aus Altona, der die Hubschrauber so vertreiben wollte, damit seine Tochter schlafen kann. Der Mann sitzt in Untersuchungshaft.

Wie viele verletzte Demonstranten gab es?

Dazu gibt es nach wie vor keine offiziellen Angaben. Weder Polizei noch Feuerwehr können nach eigenen Angaben dazu Auskunft geben. In den umliegenden Hamburger Krankenhäusern wurden nach deren Angaben 189 Patienten mit "demonstrationstypischen Verletzungen" behandelt. Sie kamen mit Knochenbrüchen an Armen und Rippen, Kopfplatzwunden, Schnittwunden oder Prellungen in die Notaufnahme. Rund 90 Prozent von ihnen konnten ambulant behandelt werden. Die Hamburger Feuerwehr bestätigte einem Twitter-Nutzer immerhin, dass diese Angaben zur G20-Einsatzstatistik passten:

Die genaue Zahl verletzter Demonstranten, Aktivisten, Störer und Gewalttäter wird aber wohl nie genau zu ermitteln sein. Dem ARD-Faktenfinder ist beispielsweise mindestens ein Patient bekannt, der sich aufgrund seines Wohnorts in einem Krankenhaus behandeln ließ, das nicht unter diejenigen fällt, die zusammen 189 Patienten behandelten.

Zudem dürften sich viele Verletzte des Demonstrationsgeschehens und/oder der Randale nicht bei Feuerwehr und Rettungskräften gemeldet haben, sondern bei selbstorganisierten Demonstrationssanitätern. Im Stadtteil Bahrenfeld soll es mehrere Schwerverletzte gegeben haben, als Gipfelgegner auf der Flucht vor der Polizei zum Teil vier Meter tief von einer Mauer stürzten. Die Betroffenen erheben in der "Hamburger Morgenpost" schwere Vorwürfe gegen die Polizei, die aber nicht unabhängig überprüfbar sind. Laut Polizei laufen die Ermittlungen zu dem Fall.

Ob die diversen Demonstrationsveranstalter noch Angaben zu Verletzten auf ihren Veranstaltungen machen, ist unklar. Insgesamt dürfte es Hunderte Verletzte gegeben haben, angesichts der unübersichtlichen Lage wird es aber wohl keine genauen Zahlen mehr geben.

Wie hoch sind die Schäden? Wie viele Autos brannten aus?

Auch hier liegt noch keine abschließende Bilanz vor. Für die Betroffenen der Randale und Plünderungen wird ein Hilfsfonds eingerichtet. Im Schanzenviertel wurden mehrere Geschäfte geplündert, darunter zwei REWE-Supermärkte, eine Filiale der Hamburger Drogeriekette "Budnikowksy", eine Spielhalle, ein Geschäft, das hauptsächlich Apple-Produkte verkauft und mehrere kleinere Läden.

Wie viele Autos ausgebrannt sind, ist laut Polizei noch nicht bekannt. Nach eigener Recherche und Augenzeugenberichten ist aber mindestens von einer hohen zweistelligen Zahl auszugehen. Wie die Polizei dem ARD-faktenfinder bestätigte, brannte auch ein indonesisches Diplomatenfahrzeug aus.

Wer waren die Gewalttäter?

Laut verschiedenen Berichten waren Linksextremisten aus mehreren europäischen Ländern in Hamburg. Auch viele deutsche Autonome waren angereist. Die meisten Täter konnten allerdings bislang nicht identifiziert werden, da es nur relativ wenige Festnahmen gegeben hat. Insgesamt wurden nach den gewaltsamen Auseinandersetzungen während des gesamten Gipfels mehr als 50 Haftbefehle angeordnet. Die Hamburger Polizei hat eine Sonderkommission "Schwarzer Block" eingerichtet, um die erheblichen Mengen an Beweismaterial zu sichten.

Im Schanzenviertel waren laut übereinstimmenden Augenzeugen- und Medienberichten ein großer Teil der Gewalttäter aber auch Jugendliche aus dem Stadtteil, den angrenzenden Vierteln und der Vorstadt. Auch "Krawalltouristen" und Gelegenheitsrandalierer beteiligten sich an den Ausschreitungen und Plünderungen. Laut einiger Gewerbetreibender in der Schanze seien "erlebnishungrige Jugendliche sowie Voyeure und Partyvolk" sogar der weit größere Teil der Randalierer gewesen, wie sie in einer gemeinsamen Stellungnahme behaupten.

Warum konnten die Gewalttäter Freitag ungestört in Altona randalieren?

Am Freitagmorgen zog ein Trupp von etwa 100 schwarz vermummten Gewalttätern erst durch die Elbchaussee, dann am Altonaer Rathaus entlang und schließlich durch die Neue Große Bergstraße und hinterließ eine Spur der Zerstörung: Zahlreiche Autos brannten aus, Fenster wurden eingeschlagen, Bushaltestellen demoliert. An einer IKEA-Filiale wurde Feuer gelegt. Das Gebiet befindet sich nicht weit von der Hamburger Innenstadt - die Taten und die Bilder davon verbreiteten in der Stadt und den Sozialen Medien Angst und Schrecken.

Die Polizei teilte dazu bislang mit, es habe etwa eine Stunde zuvor eine Auseinandersetzung mit Demonstranten gegeben, die aus einem Camp im Altonaer Volkspark in Richtung Innenstadt ziehen wollten. Dabei sei es auch zu 54 Festnahmen gekommen. Dennoch konnten die Gewalttäter wenig später unbehelligt durch Altona ziehen. Vom Camp im Volkspark bis zum Endpunkt der Randale in der Neuen Großen Bergstraße sind es entlang der mutmaßlich eingeschlagenen Route fast neun Kilometer. Wie die Täter eine so lange ohne Polizeibegleitung bewältigen konnten, wie sie sich fortbewegten - all das ist nach wie vor unklar.

Selbst als viele Autos bereits brannten, waren weder Polizei noch Feuerwehr im Einsatz, wie die Videos von Anwohnern zeigen. Laut unterschiedlicher Augenzeugen dauerte es vom ersten Notruf bis zum Eintreffen der Rettungskräfte fast eine Stunde. Viele Betroffene versuchten daher ihre Fahrzeuge selbst zu löschen. Die Frage danach, wie lange es dauerte, bis Einsatzkräfte vor Ort waren, wurde bislang nicht beantwortet.

Warum rückte die Polizei am Freitagabend nicht früher gegen die Randalierer und Plünderer in der Schanze vor?

Diese Frage ist für viele Hamburger eine der drängendsten: Auch Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) bemüht sich immer wieder, dem Eindruck zu widersprechen, die Schanze sei stundenlang sich selbst überlassen worden. Die Polizei begründet das verzögerte Einschreiten damit, dass die Beamten in einen Hinterhalt gelockt werden sollten - und Leib und Leben in Gefahr gewesen seien.

Auf einer Pressekonferenz am Sonntag nach dem Gipfel hieß es zunächst, dass ein eingerüstetes Haus am Schulterblatt erst geräumt werden musste, weil sich auf dem Gerüst und dem Dach Gewalttäter mit Molotow-Cocktails, Gehwegplatten, Steinen und Präzisionszwillen verschanzt gehabt hätten - um diese im Fall des Vorrückens gezielt auf die Beamten zu werfen. Laut "Hamburger Abendblatt" hätten sich die vor Ort eingesetzten Beamten geweigert, unter diesen Umständen in die Schanze vorzurücken. Schließlich wurden Spezialeinsatzkommandos (SEK) gerufen, die das Haus stürmten und die Gewalttäter vom Dach holten. Danach wurde die Schanze gegen Mitternacht geräumt. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Randale allerdings schon gut vier Stunden. Sichergestellt werden konnten die vermuteten Gegenstände nach Polizeiangaben nicht.

Mittlerweile stellt der Sprecher der Hamburger Polizei, Timo Zill, die Lage laut der "ZEIT" so dar: "Der Hinterhalt sei 'flächig' gewesen: Nur einzelne Dächer am Schulterblatt seien NICHT für Angriffe auf Beamte vorbereitet gewesen. 'Das war bürgerkriegsähnlich', sagt der Polizeisprecher." Zill spricht zudem von Stahlseilen, die gespannt werden sollten, um Polizeifahrzeuge zu stoppen. "Diese Stahlseile haben wir auch gefunden", so der Sprecher. Auch diese Version wirft allerdings neue Fragen auf: Wenn fast alle Dächer voller Gewalttäter waren, warum reichte dann der SEK-Einsatz in einem Haus, um die Schanze anschließend zu räumen?

Warum wurde die "Welcome to Hell"-Demo gestoppt?

Die Polizei argumentiert, es habe rund 1.000 Vermummte gegeben, daher habe man die Demonstration nicht losziehen lassen können. Augenzeugen berichten allerdings übereinstimmend, dass die Zahl der Vermummten unter den insgesamt etwa 12.000 Demonstranten geringer war, und viele ihre Vermummung abgenommen hätten. Hier gehen die Darstellungen auseinander. Die Polizei hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Wasserwerfer in Richtung der Demonstrationsspitze aufgefahren und mehrere Hundertschaften dort positioniert. Zudem standen auch am anderen Ende der Demonstration auf dem Fischmarkt ebenfalls Wasserwerfer bereit.

Als die Polizisten versuchten, den "Schwarzen Block" vom Rest der Demonstration abzutrennen, eskalierte die Situation völlig. Polizeivideos zeigen, wie Steine, Flaschen, Feuerwerkskörper und Leuchtraketen auf die Beamten niederprasselten, so dass sie zunächst zurückweichen mussten. Für die Polizei der Beleg, dass die Demonstration von Anfang an gewalttätig und bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr "friedlich" war.

Viele Beobachter werfen der Polizei dagegen vor, sie hätte von Anfang an den Plan gehabt, die Demonstration zu verhindern. Augenzeugen kritisierten zudem, es hätte in der engen Straße eine Massenpanik geben können, als die Polizei die Demo-Spitze stürmte und auch im hinteren Bereich der Demonstration mit Wasserwerfern vorging. Einige Experten kritisierten zudem, dass die Taktik des Abtrennens eines Blocks selten zum Erfolg führe, weil sich ein Demonstrationszug zumeist als Ganzes angegriffen fühle. Zudem entkamen praktisch alle Mitglieder des "Schwarzen Blocks" über eine Fluchtmauer und verteilten sich unkontrolliert über die Stadt.

Gab es exzessiven oder rechtswidrigen Einsatz von Gewalt durch die Polizei?

Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz bestreitet derartige Vorwürfe kategorisch. Er sagte im NDR: "Polizeigewalt hat es nicht gegeben, das ist eine Denunziation, die ich entschieden zurückweise."

Allerdings liegen zahlreiche Hinweise auf zumindest fragwürdiges Verhalten von Polizisten vor. Auf Videos im Internet ist zu sehen, wie Polizisten Demonstranten oder andere Personen schlagen, treten oder schubsen.

Der Kontext ist zumeist nicht zu erkennen, allerdings berichteten zudem Augenzeugen von einem unverhältnismäßigen Vorgehen gegen Unbeteiligte oder Demonstranten. So behaupteten verletzte G20-Gegner in der "Hamburger Morgenpost", sie seien von Polizisten absichtlich von einer Mauer gestoßen worden. Bei dem Vorfall kam es zu 14 Verletzten - wie schwer diese Verletzungen waren, ist allerdings nicht vollständig geklärt. Laut Polizei handelt es sich um einen Unfall, weil ein Gerüst nachgegeben habe, als die vor der Polizei Flüchtenden darüber geklettert seien. Zu dem Vorfall werde weiter ermittelt.

Das hessische Innenministerium will laut "Frankfurter Rundschau" einen gezielten Pfefferspray-Einsatz gegen eine Demonstrantin in Hamburg überprüfen. Zwei hessische Beamte hatten die Frau mit Pfefferspray besprüht, nachdem sie auf ein Räumfahrzeug der Einsatzkräfte geklettert war.

Der Fotograf und Grünen-Politiker Erik Marquardt sagte dem NDR, es seien von Polizisten gezielt Journalisten angegriffen worden. Ihn selbst hätten Polizisten am Freitagabend aufgefordert, sich "zu verpissen", nachdem er seine Presseakkreditierung gezeigt habe. Im Weggehen habe ein Polizist ihn dann noch getreten. Tags drauf habe ihm ein Polizist versucht, die Kamera aus der Hand zu reißen.

Auch andere Journalisten berichten von Übergriffen und Einschüchterungen. Ein österreichischer Fotograf sowie ein Hamburger Journalist haben geschildert, dass sie mit Pfefferspray attackiert worden seien. Zahlreiche Tweets unterschiedlicher Journalisten zeugen davon, dass die Polizei offenbar auch gegen sie vorging.

Ein Fotograf des "Stern" schilderte auf Facebook, wie seine Ausrüstung durch einen Wasserwerfer zerstört, und er im weiteren Verlauf des Tages von der Polizei verletzt worden sei.

Klar ist, es hat viele Einsätze von Wasserwerfer und Pfefferspray gegeben. Mehrfach setzten Polizisten auch Schlagstöcke ein - unter anderem Freitagvormittag, um eine Sitzblockade in der Innenstadt (Stephansplatz) zu räumen. Ob es jedoch exzessive oder rechtswidrige Gewalt durch Beamte gab, ist noch nicht abschließend geklärt.

Die Hamburger Innenbehörde bestätigte der Zeitung "Die Welt", dass es bislang insgesamt 44 Strafanzeigen gegen Polizisten gebe, in 35 Fällen seien Ermittlungen eingeleitet worden, dabei gehe es in 27 Fällen um den Vorwurf der Körperverletzung im Amt. Sieben Mal sei ein Verfahren von Amts wegen durch das Dezernat Interne Ermittlungen (D.I.E.) eingeleitet worden, darunter in vier Fällen wegen Körperverletzung im Amt. Zuständig für die Verfolgung der Vorwürfe ist die Dienststelle in allen Fällen.

Warum wurde Medienvertretern die Akkreditierung wieder entzogen?

Eine Frage, die die Öffentlichkeit noch weiter beschäftigen dürfte. Bundesjustizminister Heiko Maas forderte im Zusammenhang mit der Affäre um nachträglich entzogene Akkreditierungen für Journalisten beim G20-Gipfel eine umfassende Aufklärung. Laut RBB sollen Informationen des Verfassungsschutzes zum nachträglichen Entzug der Akkreditierungen geführt haben - was dafür spricht, dass der Inlandsgeheimdienst die Journalisten überwacht. Dem NDR-Reporter Christian Wolf wurde beim G20-Gipfel sogar vorgehalten, er sei ein "Reichsbürger".

Welche Rolle spielten Falschnachrichten rund um G20?

Gerade in unübersichtlichen Situationen verbreiten sich rasant auch falsche Informationen und gezielte Falschmeldungen. Der ARD-faktenfinder hat mehrere Fake News widerlegt. Noch immer kursieren Gerüchte, beispielsweise, dass an den Krawallen im Schanzenviertel Neonazis beteiligt gewesen seien. Hierfür gibt es aber keine belastbaren Indizien. Auch die Polizei musste eigene Meldungen korrigieren, so beispielsweise zu einem von zwei Warnschüssen an diesen Tagen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten u.a. tagesschau24 am 09.07. um 14 Uhr, am 10.07. um 12 Uhr, am 12.07. um 11 Uhr und am 13.7. um 10 Uhr. Desweiteren berichtete darüber die Tagesschau am 09.07. und am 11.07. um 20 Uhr.