
Krieg gegen die Ukraine Die Ouvertüre des Angriffs
Vor genau einem Jahr, am 21. Februar 2022, verkündete Putin, die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkennen zu wollen. Drei Tage später begann Russlands Einmarsch.
Bis zuletzt hatten namhafte Expertinnen und Experten nicht daran geglaubt, dass Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschieren würde. An jenem Abend aber schrillten die Alarmglocken lauter als zuvor, erinnert sich die Moskauer Politologin Ekaterina Schulmann, die aktuell als Fellow der Robert Bosch Stiftung in Berlin arbeitet.
Am 21. Februar 2022 fand in Moskau die inzwischen berühmte Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates statt. "Und schon anhand der Stimmung der Teilnehmenden und des Entsetzens auf ihren Gesichtern", sagt Schulmann, sei klar gewesen, dass Grund für die Sitzung eine außerordentliche Entscheidung sein müsse.
"Aus humanitären Erwägungen"
Ihr vorangegangen war ein öffentlicher Appell der Leiter der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die Gebiete als von der Ukraine unabhängige Staaten anzuerkennen. Die russische Duma hatte zuvor bereits in dieser Frage beraten - genau an dem Tag, an dem der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Kreml sprach.
Vor den versammelten Mitgliedern des Sicherheitsrates erklärte Parlamentssprecher Wjatscheslaw Wolodin, dass 351 von 450 Abgeordneten dafür gewesen seien, einen "sofortigen Appell" an Putin mit der Bitte um Anerkennung der Donezker und Luhansker Volksrepubliken zu richten. "Unsere Entscheidung wurde hauptsächlich von humanitären Erwägungen bestimmt", ergänzte der Sprecher. "Dort sterben Menschen, und es hört nicht auf."
Zudem gelte es, die rund 800.000 russischen Staatsangehörigen zu schützen, die dort lebten. Seit 2019 erteilt Moskau den Donbass-Bewohnern in einem vereinfachten Verfahren die russische Staatsbürgerschaft.
Staatsmedien bliesen zum Einmarsch
Schon damals warnten Beobachter, dass Russland dies als Vorwand nutzen könnte, auch offiziell in der Ostukraine einzumarschieren. Zunächst aber wurde das Narrativ eines angeblichen, von Kiew geplanten Genozids im Donbass bemüht, um Moskaus Intervention argumentativ vorzubereiten.
Wenige Wochen vor dem russischen Einmarsch fragte die Chefin des russischen Staatssenders RT, Margarita Simonjan, in einer Fernsehsendung: "Sollen wir etwa warten, bis es dort Konzentrationslager gibt? Dass sie ihre Bevölkerung mit Gas vergiften? Worauf warten wir?"
Es folgten immer mehr Reportagen in den staatsnahen Medien, die das angeblich rücksichtslose Vorgehen der ukrainischen Armee illustrieren sollten. Sowohl die Soldaten wie die ukrainische Regierung wurden dabei verstärkt als Nazis und Faschisten bezeichnet, die eine Vernichtung der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass anstreben würden.
Treuebekenntnis der Politikeliten
Angesichts einer derartigen, seit 2014 andauernden "Tragödie", halte er es für notwendig, erklärte Putin im Anschluss an die Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates, "eine schon längst gewachsene Entscheidung zu treffen - die Unabhängigkeit und Souveränität der Donezker und Luhansker Volksrepublik unverzüglich anzuerkennen".
Zuvor waren die Mitglieder des Sicherheitsrates einzeln ans Rednerpult getreten und hatten sich für diesen Schritt ausgesprochen, unter ihnen auch Außenminister Sergej Lawrow, Verteidigungsminister Sergey Schojgu und Premierminister Michail Mischustin. Ein Akt, der einem öffentlichen Treuebekenntnis der Eliten gleichkam.
Für die Politologin Schulmann war damit klar, "dass etwas vor sich geht, das mehr sein könnte, als nur die Lösung des Problems der Donezker und Lugansker Volksrepubliken". Drei Tage später begann die sogenannte "spezielle Militäroperation": der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Vorstufe zur Annexion
Unmittelbar nach der Sitzung des Sicherheitsrates prognostizierten zudem Experten, dass die Anerkennung der Souveränität der selbsternannten Volksrepubliken nur eine Vorstufe für eine mögliche Annexion der Gebiete durch Russland sein würde. Nach einer groß inszenierten Durchführung von Scheinreferenden wurde sie sieben Monate später, Ende September, tatsächlich vollzogen.
Neben Donezk und Luhansk erklärte Moskau auch die im Rahmen der sogenannten "Spezialoperation" neu besetzten Gebiete in den südostukrainischen Regionen Cherson und Saporischschja zu Subjekten der Russischen Föderation.
Nur wenige Stunden vor dem vermeintlichen "Anschluss", der auf dem Roten Platz gar als "Wiedervereinigung" gefeiert wurde, hatte der Kreml auch sie zu unabhängigen Staaten deklariert - gegen das Völkerrecht und ohne internationale Anerkennung.