Volodymyr steht auf einer Wiese, im Hintergrund sind Soldaten und ein Raketenwerfer.
reportage

Ukraine Improvisierte Waffen, müde Soldaten

Stand: 18.07.2023 19:45 Uhr

Die Ukraine versucht in einer schleppenden Gegenoffensive, besetzte Gebiete zurückzuerobern. Mancherorts setzen die Soldaten improvisierte Waffen ein. Jeder Erfolg motiviert, und doch merkt man ihnen die lange Kriegszeit an.

Es wird gespenstisch still, nachdem die Soldaten ihre grauen Pick-ups geparkt, die Raketenwerfer auf den Ladeflächen ausgerichtet und die Zielkoordinaten ein letztes Mal überprüft haben. So still, dass die Insekten auf den Feldern ringsherum und das Summen der Stromleitung laut wirken. In der Ferne liegt ein Sirren in der Luft. Die Soldaten schauen besorgt in den Himmel: Ist es eine russische Drohne? Oder doch nur ein Auto in weiter Entfernung?

Dann durchbricht das Knacken des Funkgeräts von Kommandant Wolodymyr die Stille. Die Luftaufklärung hat den Raketenangriff freigegeben. Sechs Geschosse feuern die Soldaten von ihren Raketenwerfer-Pick-Ups auf russische Kommandostellen ab.

Es sind keine modernen westlichen Waffen, mit denen diese Einheit kämpft. Es sind Eigenkonstruktionen - eine Mischung aus handelsüblichen Autos und Einzelteilen veralteter, sowjetischer Waffen.

Die Schüsse verraten die Position der ukrainischen Soldaten, die Gefahr russischer Gegenangriffe ist jetzt besonders groß. Am Horizont sind Rauchsäulen zu erkennen.

Wie erfolgreich ist die ukrainische Gegenoffensive?

T Dammers/ A. Shvets, ARD Kiew, tagesthemen, 13.07.2023 22:15 Uhr

Die Gegenoffensive läuft schleppend

Wenige Minuten später sind Wolodymyr und seine Soldaten wieder in ihrem Versteck angekommen. Sie gehören zur 108. Brigade und unterstützen die ukrainische Gegenoffensive in der Region Saporischschja im Süden der Ukraine.

Diese Gegenoffensive verläuft bislang schleppend. Trotz einiger, kleinerer vermeldeter Geländegewinne im Osten und Süden sind große Durchbrüche entlang der Front bislang ausgeblieben. Minenfelder, Panzersperren und russisches Artilleriefeuer würden die Vorstöße bremsen, berichten Soldaten an mehreren Frontabschnitten.

Aus den Raketenwerfer-Pick-ups werden Geschosse abgefeuert.

Nach dem Angriff heißt es für die Soldaten, schnell den Standort zu wechseln. Denn jeder Angriff verrät, wo sie sich aufhalten.

"Wünschen uns alle, dass es schneller geht"

Kommandant Wolodymyr gibt sich trotzdem zuversichtlich, dass alles nach Plan läuft. Aber er räumt ein: "Wir alle wünschen uns, dass es schneller geht." Gleichzeitig vertraue er auf die Strategie des Generalstabes. "Es geht nun mal so schnell, wie es geht", sagt er.

Äußerungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zum Tempo der Gegenoffensive will er nicht kommentieren. Die Hälfte seiner Einheit sei an der Front, die andere im Versteck. "Wann sollen wir über sowas reden?"

Im Schatten eines Tarnnetzes und eines baufälligen Schuppens stapeln sich schlanke, sargähnliche Holzkisten mit weiterer Munition für die selbstkonstruierten Raketenwerfer. Derzeit hätten sie genügend, sagt Wolodymyr. Mit moderneren Lenkraketen könnten sie die Gegenoffensive allerdings beschleunigen, ist er überzeugt.

Werkstatt im Untergrund

Drei neue improvisierte Raketenwerfer, wie sie auch Wolodymyrs Einheit nutzt, stehen in einer ehemaligen Autowerkstatt in der Stadt Saporischschja, rund 70 Kilometer weiter nordwestlich. 15 Männer folgen schweißend, hämmernd und schraubend den Anweisungen von Maksim. 

Er trägt ein blaues T-Shirt, ist 19 Jahre alt und Ingenieursstudent. Von ihm stammen die Baupläne für die Waffen: Handelsübliche Pick-ups werden gekürzt, verstärkt und mit mechanischen Hebe-Konstruktionen aufgerüstet. Der Drehring des Geschützes ist eigentlich eine Konstruktion für Traktoren. Anschließend montieren die Männer drei Rohre von sowjetischen Grad-Raketenwerfern auf die Ladefläche.

Die ersten Pläne hätten Soldaten im vergangenen Jahr mitgebracht, erzählt Maksim. Aber es sei sofort klar gewesen, dass diese so nicht funktionieren würden.

Deswegen habe er sie verändert, Schritt für Schritt Verbesserungen vorgenommen. Zunächst seien sie für die Konstruktionen belächelt worden, so Maksim. Aber inzwischen würden immer mehr Soldaten nach ihren Raketenwerfern fragen. 13 hätten sie bereits ausgeliefert, drei weitere seien im Bau.

Maksim und weitere Mitarbeiter stehen in der Werkstatt neben dem selbst entworfenen Raketenwerfer.

Eine Autowerkstatt wird zur Waffenschmiede - mit einfachen Mitteln werden hier in Saporischschja Pick-ups für den Krieg umgerüstet.

Mobiler als herkömmliche Raketenwerfer

Anders als herkömmliche Raketenwerfer benötigten sie weniger Munition und seien mobiler, um sich schneller wieder zurückziehen zu können, berichtet Maksim. Im Vergleich zu schweren westlichen Waffen stellten sie ein weniger lukratives Ziel für russische Artillerie dar und könnten sich so weiter vorwagen, meint Maksim.

Selbst hergestellte Waffen und Konstrukte, mit denen handelsübliche Geräte zu Kampfzwecken umfunktioniert werden können, sind ein typisches Merkmal dieses Krieges geworden. Insbesondere kleine mobile Drohnen werden in zahllosen Werkstätten zu tödlichen Waffen umgerüstet.

Soldaten blicken auf der Suche nach Drohnen in den Himmel.

Vor einer Attacke suchen die ukrainischen Soldaten den Himmel ab, denn Drohnen stellen in diesem Krieg eine ständige Gefahr dar.

Früher Bauer, jetzt Waffenschmied

Maksims Vater Jurij leitet die Werkstatt. Früher sei er Bauer gewesen, berichtet er, ebenso wie die meisten anderen in der provisorischen Waffenschmiede. Aber sein Hof, in dessen Nähe derzeit die Frontlinie der Gegenoffensive verläuft, sei durch russische Angriffe zerstört worden.

Seine persönliche Motivation sei es deswegen, dabei zu helfen, so viele russische Soldaten wie möglich zu töten, um ukrainisches Gebiet zurückzuerobern. "Wir haben keine andere Wahl", sagt er.

Aber trotz der sporadischen Fortschritte, trotz der kleinen Geländegewinne der ukrainischen Armee blickt Jurij besorgt in die Zukunft. "Wir wissen alle, dass der Ackerboden jetzt unbrauchbar für die Landwirtschaft ist."

Überall würden Minen und nicht explodierte Sprengsätze verborgen liegen. Es werde "mehr als ein Dutzend Jahre" brauchen, diesen fruchtbaren Boden wiederherzustellen, schätzt er. 

Geisterstadt an der Frontlinie

Auch der kleine Ort Welyka Nowosilka in der Region Donezk liegt nur wenige Fahrminuten von der Frontlinie entfernt. Die ukrainische Artillerie hat sich hier verschanzt, liefert sich Gefechte mit russischen Truppen.

In der Nähe ist der ukrainischen Armee vor mehreren Wochen einer der zählbarsten Erfolge ihrer Gegenoffensive gelungen: Insgesamt konnten vier Dörfer in unmittelbarer Umgebung zurückerobert werden.

Dima hat bei der Befreiung mitgekämpft. In Splitterschutzweste, Helm und mit hohem Tempo rast der 22-Jährige durch die verlassenen Straßen des Ortes. Rechts und links säumen zerstörte Häuser den Weg, verwilderte Gärten liegen brach, das Krankenhaus ist beschädigt, kaum jemand ist auf der Straße unterwegs.

Obwohl der Ort von der ukrainischen Armee gehalten wird, ist er wie ausgestorben. In kurzen Abständen ist immer wieder Geschützfeuer zu hören: ukrainische Artillerie und russische Granateinschläge.

Wie viele Soldaten bei den Rückeroberungen ums Leben gekommen sind, will Dima nicht sagen. Nur, dass er sich wünschen würde, dass alle mit "Armen, Köpfen und Beinen nach Hause" kommen. "Aber das geht wohl nicht."

Müde Soldaten und russische Artillerie

Unter einem kleinen Baum sucht Dima Sichtschutz vor russischen Drohnen. Mit einer Hand wischt er sich den Schweiß aus den dunklen Haaren, in der anderen hält er eine Zigarette. Dima erzählt, dass es bei den Kämpfen in der Nähe von Welyka Nowosilka besonders schwer sei, befestige Anhöhen zu erstürmen.

Grund dafür sei vor allem der massive, russischen Artillerie-Beschuss. Gerüchte, dass der russischen Seite die Munition ausgehen würde, hält er für einen "Mythos". Die Russen würden "gut und viel schießen, ohne jede Rücksicht", so Dima.

Bevor er wieder ins Auto steigt, sagt Dima, dass die Moral seiner Einheit noch hoch sei. Aber natürlich seien "die Soldaten auch müde" - nach mehr als einem Jahr im Krieg.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 13. Juli 2023 um 22:15 Uhr.