Ukrainische Soldaten bergen und identifizieren gefallene Soldaten
weltspiegel

Ukraine Die riskante Suche nach Gefallenen

Stand: 21.05.2023 10:53 Uhr

Gefallene Soldaten zu bergen, ist riskant. Ukrainische Spezialisten wissen, dass sich unter den Leichen Sprengkörper verbergen können und rundherum Minen. Dennoch gehen sie das Risiko ein - nicht nur aus humanitären Gründen.

Von Susanne Petersohn, ARD Kiew, Susanne Petersohn, ARD Kiew

Jurij Doroschenko zeigt auf eine kleine Graslandschaft hinter den Ruinen seines kleinen Dorfs Husarivka in der Region Charkiw, im Osten der Ukraine. Irgendwo da drüben hinter einer von Schrapnellen durchlöcherten Mauer sollen sie liegen, tote russische Soldaten. 

Freiwillige hätten sie entdeckt, erzählt der Bürgermeister, als sie Gummireifen einsammeln wollten. Noch am gleichen Abend habe er daraufhin Myhajlo und sein Team informiert.

Myhajlo und seine Männer gehören zu einem Suchtrupp des ukrainischen Militärs, deren Aufgabe es ist, gefallene Soldaten zu bergen. Im Winter hätten sie zehn bis fünfzehn tote Soldaten am Tag geborgen, erzählt Myhajlo. Jetzt im Frühjahr seien es für sein Team weniger geworden. Doch allein auf ukrainischer Seite gelten nach wie vor mehr als 7000 Soldaten als verschollen. 

Die riskante Suche nach gefallenen Soldaten in der Ukraine

Susanne Petersohn, ARD Kiew, Weltspiegel, 21.05.2023 18:30 Uhr

Drohnen helfen - und schützen

Die Arbeit ist schwierig. Die Männer müssen extrem vorsichtig vorgehen. Oft ist oder war, wie in Husarivka, das Gelände stark vermint. Um die Gefahr einzudämmen, haben sie einen Drohnenpiloten dabei. Axel sucht Meter für Meter mit der Kamera seiner Drohne das Gelände ab. Seine Aufgabe sei es, "nach menschlichen Überresten zu suchen, oder nach Minen, die offen auf dem Feld zu sehen sind", erzählt er.

Erst wenn er das Gelände freigibt, laufen die Kameraden vorsichtig los. Absolute Sicherheit gibt ihnen das nicht. Myhajlo erzählt, dass Kameraden erst vor wenigen Wochen eine Mine ausgelöst hätten, sie liegen schwer verletzt im Krankenhaus.

In Husarivka wurde das Minenfeld, auf dem die russischen Soldaten liegen, geräumt. Aber kleine Minen können leicht übersehen werden, offiziell freigegeben ist das Gelände nicht. Die beiden Toten müssen dort schon lange liegen.

Sorge um Verschleppte

Das Dorf war in den ersten Monaten nach Russlands Überfall auf die Ukraine unter russischer Besatzung. Für die Bewohner eine grausame Zeit. Viele Häuser wurden zerstört. Eine Dorfbewohnerin erzählt, wie russische Soldaten Geschäfte und Privatwohnungen geplündert hätten. Es sei gefoltert und gemordet worden.

Und nach wie vor würden Dorfbewohner vermisst, erzählt Bürgermeister Doroschenko. Einige hier im Dorf hoffen, dass sie nur verschleppt wurden, andere sind sicher, dass sie ermordet wurden.

Doch für die toten russischen Soldaten kann er heute "nur Abscheu" empfinden, "sie hätten nicht in unser Land kommen dürfen". Doroschenko hofft, dass für die beiden toten russischen Soldaten zwei Bürger seines Dorfs zurückkommen. 

Denn wenn der Suchtrupp russische Soldaten findet, haben sie auch einen Wert für die Ukrainer, erzählt Myhajlo, "weil wir sie gegen unsere eigenen austauschen". Diese Austausche finden zwischen den Kriegsparteien regelmäßig und meist zeitnah statt, erzählt er. 

In Husarivka (Ukraine) spricht ein Mann mit Soldaten der ukrainischen Armee

In Husarivka suchen Anwohner und Soldaten noch Monate nach Ende der russischen Besatzung nach Vermissten und Gefallenen.

"Wir machen das respektvoll"

Die Soldaten bereiten sich für ihren heutigen Einsatz vor, alles wird genau dokumentiert. Es komme alles auf die Details an, erzählt Drohnenpilot Axel, der den Einsatz heute leitet.

"Wir machen alles nach dem Verfahren, das auf internationaler Ebene oder in der Gesetzgebung vereinbart wurde", erklärt er, "und wir machen das respektvoll". Auch wenn die russischen Soldaten Feinde sind, ist allen hier der anständige Umgang mit den Toten wichtig.  

Doch zunächst müssen sie die Toten aus der Ferne untersuchen. Nicht selten würden Russen unter ihren toten Kameraden Sprengfallen verstecken, erzählen die Männer. Deswegen befestigen die Soldaten Seile an den sterblichen Überresten der russischen Soldaten und bewegen sie vorsichtig.

Die Ungewissheit belastet

Nichts passiert, der Trupp beginnt damit, die Uniformen der Toten zu durchsuchen. Sie finden Feuerzeuge und Zigaretten, aber auch die Erkennungsmarke eines Soldaten, Bankkarten, ein Portemonnaie. Alles Hinweise, die helfen, die Toten zu identifizieren. 

Die Männer hoffen, dass für diese beiden Russen zwei ihrer toten Kameraden im Austausch zurückgegeben werden oder die Vermissten aus dem Dorf, damit sie in Würde beerdigt werden können und die Ungewissheit für ihre Familien endet.

Wolodymyr, ein junger Soldat aus dem Trupp, erzählt, dass diese Ungewissheit für ihn die größte Belastung darstelle. "Wenn Angehörige nicht wissen, was mit ihren Söhnen, den Eltern ist, ist es am schlimmsten", sagt er. Wenn man wisse, dass ein Angehöriger, ein Freund tot sei, dann sei das zwar auch furchtbar, aber wenigstens müsse man nicht mehr auf ihn warten.

Wenn sie im Gefecht sterben sollten, hoffen sie hier, dass auch jemand nach ihren Überresten sucht. 

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste in der Sendung Weltspiegel am 21. Mai 2023 um 18:30 Uhr.