Bergungsarbeiten in Borodjanka

Nach Abzug russischer Truppen Viele Tote in Borodjanka geborgen

Stand: 08.04.2022 10:46 Uhr

Die russische Armee ist offenbar aus der Nordukraine abgezogen - dort wird an immer mehr Orten deutlich, wie groß das Leid der Zivilisten war. In Borodjanka sei es "viel schrecklicher" als in Butscha, erklärte Präsident Selenskyj.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geht laut eigenen Angaben von weiteren Gräueltaten russischer Truppen in der Ukraine aus. In der Kleinstadt Borodjanka bei Kiew, wo Aufräumarbeiten liefen und Rettungskräfte Trümmer beseitigten, sei es "viel schrecklicher" als in Butscha, sagte er in einer Videobotschaft. Konkrete Details nannte er nicht.

Konfliktparteien als Quelle

Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.

Die Bilder aus einem anderen Kiewer Vorort, Butscha, wo nach dem Abzug russischer Truppen Hunderte Leichen von Bewohnern auf den Straßen gefunden worden waren, hatten international Entsetzen ausgelöst. Die Ukraine macht für das Massaker russische Truppen verantwortlich. Moskau bestreitet das.

In Borodjanka seien allein aus den Trümmern von zwei ausgebombten Wohnhäusern 26 Leichen geborgen worden, erklärte Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa. Wie viele Opfer es insgesamt gab, sei derzeit schwer abzuschätzen. Früheren Angaben der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft zufolge soll es in der Stadt die meisten Opfer in der Region Kiew geben. Wenediktowa erklärte nun, man müsse und werde jedes Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentieren und die Verantwortlichen bestrafen. In Borodjanka habe man auch sexuelle Gewalt bestätigt.

Angriffe auf Ukraine verlagern sich Richtung Osten in Donbass-Region

Philipp Wundersee, WDR, tagesschau 09:00 Uhr

Sorge um Mariupol

Selenskyj stellte in der Videobotschaft zudem die Frage, was passieren werde, wenn die Welt erfahre, was russische Einheiten in der schwer umkämpften Hafenstadt Mariupol getan hätten. Dort gebe es in "fast jeder Straße" das, was die Welt nach dem Abzug der russischen Truppen in Butscha und anderen Städten in der Region Kiew gesehen habe.

Nach Angaben der von pro-russischen Kräften eingesetzten Stadtverwaltung Mariupols wurden bei den dortigen Kämpfen bislang rund 5000 Zivilisten getötet. Der "neue Bürgermeister" Konstantin Iwaschtschenko sagte der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass am Donnerstag in vorab veröffentlichten Auszügen eines Interviews, dass in der Stadt zudem "60 bis 70 Prozent" aller Wohnungen zerstört oder beschädigt seien. Iwaschtschenko schätzte außerdem, dass 250.000 Menschen die Stadt verlassen hätten, aber mindestens ebenso viele, wenn nicht sogar 300.000, noch in der Stadt seien.

Die Ukraine schätzt hingegen, dass sich noch 100.000 Menschen in der Stadt befinden, in der die humanitäre Lage katastrophal ist. Die ukrainischen Behörden hatten die Zahl der zivilen Opfer zudem auf "Zehntausende" geschätzt und die Zerstörung auf "90 Prozent".

Die russische Armee belagert Mariupol seit Wochen und ist mit erbittertem ukrainischem Widerstand konfrontiert. Die Einnahme ist für Russland von strategischer Bedeutung, da sie eine Landverbindung zwischen der 2014 annektierten Krim-Halbinsel und der von den Separatisten kontrollierten Region in der Ostukraine herstellen würde.

WHO kritisiert Angriffe auf Gesundheitsversorgung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verifizierte laut eigenen Angaben mehr als 100 "Angriffe auf die Gesundheitsversorgung" seit Beginn der Invasion vor mehr als einem Monat. Bei mindestens 103 Angriffen auf Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen im Land seien mindestens 73 Menschen getötet und 51 verletzt worden, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus am Donnerstag.

Die Zahl der Opfer umfasse sowohl medizinisches Personal als auch Patienten. "Wir sind empört, dass die Angriffe auf die Gesundheitsversorgung (in der Ukraine) weitergehen", sagte er.

Viele Tote bei Raketenangriff auf Bahnhof

Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt Kramatorsk wurden nach offiziellen Angaben viele Menschen getötet und verletzt worden. Es gebe 30 Tote und 100 Verletzte, sagte Eisenbahnchef Olexander Kamischyn. Zivilisten in dem Bahnhof hätten eigentlich in sicherere Gebiete der Ukraine reisen wollen.

Unterdessen scheinen sich die russischen Truppen fast vollständig aus dem Norden der Ukraine zurückgezogen zu haben. In der nordostukrainischen Region Sumy befinden sich ukrainischen Angaben zufolge keine russischen Truppen mehr. Der Chef der Gebietsverwaltung, Dmytro Schywyzkyj, warnte die Menschen, dass die Region noch nicht sicher sei. Es gebe noch viele verminte und nicht auf Gefahren abgesuchte Gebiete. Die Menschen sollten nicht am Straßenrand fahren, keine Waldwege nutzen und sich keiner zerstörten Militärtechnik nähern.

Die Region gehörte neben den Gebieten Donezk, Luhansk, Charkiw und Kiew zu jenen, in denen russische Truppen seit Kriegsbeginn angriffen.

"Putin hat sich geirrt"

Nach Ansicht der US-Regierung hat Russland sein Ziel aufgegeben, die ukrainischen Hauptstadt Kiew zu erobern. "Putin dachte, er könne sehr schnell das Land Ukraine übernehmen, sehr schnell diese Hauptstadt einnehmen. Er hat sich geirrt", sagte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Donnerstag bei einer Anhörung des Senatsausschusses für Streitkräfte im Kongress.

Sechs Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ist der weitere Verlauf des Krieges jedoch noch ungewiss, betonte der Vorsitzende der US-Generalstabschefs, Mark Milley, bei derselben Anhörung. "Der erste Teil des Krieges" sei aus ukrainischer Sicht "wahrscheinlich erfolgreich geführt worden", sagte Milley. "Aber im Südosten, in der Donbass-Region, wo die Russen ihre Kräfte bündeln und ihren Angriff fortsetzen wollen, steht noch eine bedeutende Schlacht bevor."

Darüber hinaus werde die Ukraine für den Kampf im Südosten andere Waffenlieferungen brauchen als bisher, beispielsweise Panzer, weil das Terrain dort anders sei als im Norden.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 07. April 2022 um 20:00 Uhr.