Ein Mädchen sitzt in Saporischschja auf der Straße vor einer Versorgungsstelle für Flüchtlinge zwischen Tüten mit Gepäck.
Reportage

Flucht vor dem Krieg Eine fortwährende Zerreißprobe

Stand: 08.09.2022 01:06 Uhr

Der Krieg hat Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zur Flucht gezwungen. Für viele ist Saporischschja eine Art Zwischenstation. Andrea Beer berichtet über die Spuren, die der Krieg bei den Menschen hinterlassen hat.

Von Andrea Beer, WDR, zzt. in der Ukraine

Mit dem Bus, mit dem eigenen Auto, mithilfe von Freiwilligen oder teilweise zu Fuß. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar mussten Millionen Menschen ihr Zuhause verlassen - sei es wegen Beschusses oder weil ihre Heimat unter russische Besatzung geraten war.

Nicht alle Betroffenen sind statistisch erfasst, doch allein aus der Region Donezk wurden 1,7 Millionen Menschen in Sicherheit gebracht. Rund 350.000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind noch dort, darunter 50.000 Kinder, so die zuständige Ministerin Irina Wereschtschuk.

Beschuss, Demütigung, Angst

Im August kamen 60.000 Menschen - nicht nur aus Donezk, sondern auch aus Luhansk, Charkiw sowie aus den Regionen um Cherson und Saporischschja selbst. 

Die Industriestadt am Dnjepr liegt sehr nahe am russisch besetzten Gebiet und ist für Flüchtende aus dem Süden oft die erste Anlaufstelle, wo sie kurz verschnaufen können, bevor ihre dramatische Fahrt ins Ungewisse weitergeht.

Hinter ihnen liegen monatelange Besatzung und der gefährliche Weg auf freies Territorium. Sie wurden beschossen, an russischen Checkpoints gedemütigt und mussten auf dem blanken Boden übernachten. Väter, Brüder, Ehemänner - oft sind männliche Angehörige zurückgeblieben und die Nerven der Menschen liegen blank. ARD-Korrespondentin Andrea Beer gibt einen Eindruck der Lage in Saporischschja.

Der Krieg hat die Sprache genommen

Alexei wirft sich in eine kleine lila Plastikwanne mit bunten weichen Bällen und aalt sich darin. Dann krabbelt der Zweijährige aus der Spielwanne und hechtet begeistert wieder hinein. Er lächelt zwar, sagt seine Mutter Natalja Burjak, aber er spreche nicht mehr.

Ein Kind liegt in einem Bällebad.

Das kleine weiße Zelt brachte "Save the Children" und die lärmenden Kinder hier haben gerade die aufreibende Tortur der Evakuierung hinter sich. Auch Natalja kam mit Alexei und vier weiteren Kindern aus dem Dorf Primorskoje. Es ist russisch besetzt und ihr Ehemann ist noch dort. "Wir haben uns jetzt aufgemacht, weil die Einschläge immer näher kamen und die Kinder große Angst hatten. Die Explosionen waren so nah, dass die Decke gewackelt hat und die Kinder haben vor Angst in die Hose gemacht", erzählt Natalja.

Kinder in einem Zelt von "Save the children"

Kinder spielen in einem Zelt von "Save the children"

"Ausgehungert nach Spielen"

Alexei taucht weiter in die bunten Bälle ein und Denis Tomilo freut sich daran. Der 27-jährige Freiwillige weiß, wie gut das dem schweigenden Jungen tut:

Die Kinder vermissen das wirklich sehr. Einige Eltern haben erzählt, dass sie wochenlang unterwegs waren und auf Feldern übernachtet haben. Da hatten die Kinder oft nur einen Stock zum Spielen oder vielleicht mal einen Ball. Wenn sie dann hier sind, wird sofort klar, wie sehr sie das alles vermisst haben. Sie sind ausgehungert nach Spielen.

Schläge aus Verzweiflung

Auf dem großen Parkplatz vor dem Kinderzelt organisieren an diesem Tag Hunderte Geflüchtete ihre Weiterfahrt, nachdem sie sich registriert und etwas zu essen und trinken bekommen haben. Freiwillige dirigieren sie zu den richtigen Bussen in Richtung Europa oder an Orte innerhalb der Ukraine.

Der zehnjährige Chlib streitet gerade verbissen mit seiner Großmutter. "Der Junge will seinen Vater in Mariupol anrufen und kann einfach nicht einsehen, dass es nicht geht. Die besetzte Hafenstadt hat russisches Netz und man kann nicht einfach so telefonieren", sagt Großmutter Aljona Nikolajewna gereizt. "Ich habe es dir 150 Mal erklärt", sagt die 63-Jährige und schließlich reißt ihr der Geduldsfaden. Ihr Enkel Chlib schlägt verzweifelt auf sie ein. Ebenso verzweifelt schlägt sie zurück. Ein grauhaariger Mann der mit ihnen aus Mariupol flüchten konnte, erzählt keinen Meter entfernt unbeirrt weiter.

Von allem zu wenig

Auch Aljona Marinenko wartet in der prallen Sonne auf die Weiterfahrt zu Verwandten in die Region Odessa. Sie kommt aus Askanja Nowa im Gebiet Cherson. Ihre Augen sind wässrig und rot unterlaufen. Das sei der Druck und Stress, meint die 27-Jährige. Die ersten beiden Monate seien besonders schwierig gewesen, denn es habe weder ausreichend Essen noch Medikamente gegeben. Dann seien russische Produkte eingeführt worden, doch deren Qualität sei schlecht. Doch die Menschen sind arm und vor allem Rentner haben ihr letztes Geld für Medikamente ausgegeben. Und auch die russischen Lebensmittel seien nicht gut, dafür aber teuer.

Es sei schwer unter Besatzung zu leben. "Wenn man ein Maschinengewehr auf dich richtet, bleibt keine Luft zum Atmen", sagt Aljonas Mann Oleh. Wer in russisch besetzten Gebieten seine Meinung sage, werde in einen Keller gesteckt und geschlagen.

"Ich habe versucht, den Kontakt mit den russischen Besatzern zu vermeiden", so der Feuerwehrmann, der mit der gesamten Brigade auf unbesetztes Gebiet nach Saporischschja geflohen ist. Ihr Mann habe unterschreiben sollen, dass er mit den Russen zusammenarbeiten würde und sich geweigert, so seine Frau Aljona. Deswegen seien sie jetzt geflüchtet.

"Ich komme mit all dem nicht mehr zurecht"

Nach dem Streit mit der Großmutter sitzt der zehnjährige Chlib auf einem Gepäckstück, die Schildmütze ins Gesicht gezogen. In Mariupol musste er außer dem Vater auch seinen älteren Bruder zurücklassen und seine Mutter ist in Tschechien. Großmutter Aljona nähert sich mit einem Kakao. Doch er lehnt ab und in seiner Großmutter steigt die Wut wieder auf. "Zwei Monate wurden wir bombardiert und ich komme mit all dem nicht mehr zurecht", bricht es aus ihr heraus. "Ich bin 63 und ich kann nichts dafür. Du bist kein kleines Kind mehr, trink das jetzt und beruhige dich." Sie seufzt und blickt auf ihren Enkel hinab. Er bräuchte seine Mutter und seinen Vater - aber hier ist eben Krieg

Andrea Beer, WDR, 07.09.2022 23:47 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 08. September 2022 um 09:11 Uhr.