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Bertelsmann-Studie Nur noch 63 Demokratien, aber 74 Autokratien

Stand: 19.03.2024 09:23 Uhr

Weltweit hat sich die Lage der Demokratie laut einer Bertelsmann-Studie massiv verschlechtert: Die Zahl der Demokratien unter den Entwicklungs- und Schwellenländern sank demnach auf den tiefsten Stand seit 20 Jahren. Es gibt aber auch Positivbeispiele.

Die Demokratie gerät einer Studie zufolge weltweit zunehmend unter Druck. Zu diesem Ergebnis kommt der aktuelle "Transformationsindex" der Bertelsmann Stiftung mit Blick auf 137 untersuchte Entwicklungs- und Schwellenländer von Algerien bis zur Zentralafrikanischen Republik.

"Zu keinem Zeitpunkt wurden in den vergangenen 20 Jahren so wenige Staaten demokratisch regiert wie heute", lautet das ernüchternde Urteil der Studie. 63 Demokratien stehen zurzeit einer Mehrheit von 74 Autokratien gegenüber. Zugleich attestierten die Autoren vielen Staaten ökonomische Ungleichheit und eine verfehlte Wirtschaftspolitik. In 83 der 137 Länder herrsche eine massive soziale Ausgrenzung.

Hauke Hartmann, Bertelsmann Stiftung, zu der Studie zur Lage von Demokratien

tagesschau24, 19.03.2024 14:00 Uhr

"Neue Tiefststände"

Die ausgewerteten Ländergutachten und Daten haben bei Demokratiequalität, Regierungsleistungen und Wirtschaftsentwicklung "neue Tiefststände" ergeben. "In einer steigenden Zahl von Ländern sind es die Gegner demokratischer und marktwirtschaftlicher Reformen, die an den Schaltstellen der Macht sitzen."

Allein in den vergangenen zwei Jahren waren laut der Studie in 25 Ländern die Wahlen weniger frei und fair. In 32 Staaten sei die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weniger geachtet und in 39 Ländern die Meinungs- und Pressefreiheit stärker eingeschränkt worden. Repression, Machtkonzentration, Ausschaltung verbliebener Kontrollinstanzen und Entscheidungen in engen Führungszirkeln seien für die autokratisch regierten Länder kennzeichnend.

Russland als "Hardliner-Autokratie"

Zu den 25 "moderaten" Autokratien zählen demnach die Türkei, Algerien, der Irak, Uganda, Nigeria oder auch Jordanien und Singapur mit laut Stiftung autoritärer Herrschaft. Zudem auch Tunesien, Benin oder El Salvador, die 2022 noch als Demokratien eingestuft worden waren. 

Hinzu kommen 49 "Hardliner-Autokratien", zu denen der Analyse zufolge auch Russland gehört, wo Machthaber Wladimir Putin sich erst vor wenigen Tagen bei einer stark kritisierten, nicht den demokratischen Standards entsprechenden Wahl eine weitere Amtszeit gesichert hatte.

Und zur Volksrepublik China schreiben die Studienautoren: "Das chinesische Regime mutiert unter Xi Jinping in zunehmendem Maße von einer Einparteienherrschaft zu einer absolutistischen Monokratie."

Ähnlich sei es mit Regimes in Putsch-Staaten wie Burkina Faso, Mali und Myanmar. Und in arabischen Staaten wie Ägypten, Sudan oder Syrien habe die Repression höchste Ausmaße erreicht, werde jegliche politische Opposition im Keim erstickt. Ähnlich drastisch sei die Lage auch in Afghanistan, Nicaragua, Tadschikistan, im Iran oder im Tschad. 

Polen und Brasilien als Positivbeispiele

Die Studie zeigt aber auch Positivbeispiele auf: Die Regierungsführung in baltischen Staaten, aber auch in Taiwan, Südkorea, Costa Rica, Chile und Uruguay sorge nicht nur für gute Ergebnisse im Bildungs- und Gesundheitssystem sowie beim Lebensstandard, sondern auch für die Stärkung der Demokratie, hieß es. Gute Politik ist demnach langfristig geplant, transparent und am Gemeinwohl ausgerichtet. Die Stabilität demokratischer Ordnungen hänge maßgeblich von rechtsstaatlich verankerten, funktionierenden und akzeptierten demokratischen Institutionen ab.

Als "wichtige, manchmal letzte Bastion zur Verteidigung von Demokratien" bezeichnen die Studienautoren die Widerstandskraft der demokratischen Zivilgesellschaft. In Brasilien, Kenia und Sambia habe zivilgesellschaftlicher Nachdruck im Zusammenspiel mit Wahlbehörden korrekte Wahlen gewährleistet, heißt es in der Studie. In Polen und Sri Lanka sei erfolgreich zum Schutz bürgerlicher und sozialer Rechte mobilisiert worden.

Bertelsmann Stiftung

Die Bertelsmann Stiftung wurde 1977 durch den Unternehmer Reinhard Mohn gegründet, den damaligen Chef des Medienkonzerns Bertelsmann. Nach Angaben des Konzerns halten Stiftungen, unter anderem die Bertelsmann Stiftung, heute etwas mehr als 80 Prozent der Aktien am Bertelsmann-Konzern, zu dem unter anderem die RTL Group, das Musikunternehmen BMG, die Verlagsgruppe Penguin Random House sowie Servicegeschäfte gehören.

Für ihre Studien sammelt und analysiert die Bertelsmann Stiftung Daten und gibt Handlungsempfehlungen an die Öffentlichkeit und Entscheidungsträger ab. Sie arbeitet operativ, das heißt sie unterstützt nicht die Arbeit Dritter, sondern investiert ausschließlich in selbst initiierte Projekte. Dabei dient sie nach eigenen Angaben dem Gemeinwohl und ist zu politischer Neutralität verpflichtet.

EIU-Demokratie-Index auf tiefstem Stand seit 2006

In einigen Ländern Ostmittel- und Südosteuropas wie in der Republik Moldau, Nordmazedonien, Polen, Slowenien und Tschechien oder Lateinamerikas hätten relativ freie Wahlen eine Wende eingeläutet. Das gelte auch für Brasilien, Guatemala und Honduras.

Der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) analysiert seit 2006 alle zwei Jahre die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und Regierungsführung in 137 Entwicklungs- und Transformationsländern. Grundlage sind den Angaben zufolge mehr als 5.000 Seiten an detaillierten Länderberichten, die in Zusammenarbeit mit knapp 300 Experten führender Universitäten und Think Tanks in über 120 Ländern erstellt werden. Der aktuelle Untersuchungszeitraum erstreckt sich den Angaben zufolge vom 1. Februar 2021 bis zum 31. Januar 2023.

Für das Jahr 2023 hatte bereits im vergangenen Monat die "Economist Intelligence Unit" (EIU) der britischen "Economist"-Gruppe eine Verschlechterung der demokratischen Standards auf der Welt festgestellt. Bei dieser Untersuchung sank der jährlich ermittelte Demokratie-Index mit 5,23 auf den niedrigsten Stand seit der Veröffentlichung der ersten Studie im Jahr 2006.

Christoph Peerenboom, BR, tagesschau, 19.03.2024 09:37 Uhr