Ein polnischer Delikatessenladen in Reading, England (Symbolbild)

Inflation in Polen Wenn "Delikatesy" unerschwinglich werden

Stand: 18.09.2022 10:11 Uhr

Polens Inflation liegt bei 16 Prozent. Lebensmittel sind inzwischen doppelt so teuer, klagen Käufer wie Verkäufer - vielen kleinen Gemischtwarenläden droht nun das Aus.

Wursttheke, Gurkengläser, Tütensuppen, ein bisschen Obst, Gemüse und Bier - das Reich, über das Pani Agnieszka herrscht, trägt die Aufschrift "Delikatesy", "Delikatessen"; in Polen ein gängiger Namen nicht für Feinkost, sondern den kleinen Lebensmittelladen um die Ecke. Für viele Polinnen und Polen sind diese vertrauten Läden in der Nachbarschaft mit ihren vollgestopften Gängen eine wichtige Quelle für den täglichen Einkauf - gewesen. Denn die hohe Inflation schlägt auch im Delikatessenladen voll zu. 16 Prozent waren es im August, der höchste Wert seit 25 Jahren.

Pani Agnieszkas gefühlte Inflation ist deutlich höher. "Für mich ist das nur die offizielle Version", sagt sie. "Wenn ich meine Produkte hier anschaue, dann würde ich sagen, die Inflation liegt bei über 100 Prozent. "Vor allem Milchprodukte, Mehl, Zucker und Öl sind teuer geworden."

Als kleiner unabhängiger Laden, erzählt sie, könne sie nicht so gute Konditionen aushandeln wie die großen Discounterketten. Also bleiben die Kunden weg - und damit das Geld.

Kunden vor dem Dosenregal eines Lebensmittelgeschäfts in Krakau.

Was gibt das persönliche Budget noch her? Die Kunden auch in diesem Lebensmittelgeschäft in Krakau müssen scharf kalkulieren.

Rentnerinnen müssen anschreiben lassen

Zur Inflation kämen die gestiegenen Strom- und Gaspreise, stöhnt Pani Agnieszka. Allein im ersten Halbjahr dieses Jahres haben in Polen über 3500 kleine Geschäfte wie ihres dichtgemacht. Aber nicht nur die Unternehmen, auch die Kunden spüren den Preisanstieg - und nicht alle können auf billigere Läden ausweichen: "Ich habe eine Stammkundin, Halinka, eine Rentnerin. Vor Kurzem hat sie ihren Mann verloren, jetzt hat sie weniger Geld", erzählt Pani Agnieszka. "Am Ende des Monats hat sie jetzt immer offene Rechnungen bei mir."

Andere gehen inzwischen Reisig in den Wäldern sammeln, um preiswert für die Heizsaison vorzubauen, legen Vorräte an und verzichten auf unnötige Ausgaben. Immobilienkäufe gehen zurück, dafür steigen die Mieten.

Die Stimmung auf der Straße in Warschau ist dementsprechend schlecht: Passanten berichten, dass sie auf Restaurantbesuche verzichten, da die teuren Lebensmittel ihrem Geldbeutel zusetzten. "Das ist schwierig. Aber ich habe Hoffnung, dass Putin nicht mehr lange leben wird", sagt ein Mann.

Zentralbank will die Folgen dämpfen

Die Inflation sei vor allem eine Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine, erklärte Premierminister Mateusz Morawiecki Anfang der Woche und kündigte weitere Hilfen an. Gerade erst hat die Regierung ihren großen Antiinflationsschild bis zum Jahreende verlängert: Die Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel und Erdgas bleibt ausgesetzt, die auf Kraftstoffe und Strom deutlich gesenkt.

Adam Glapinski, Chef der polnischen Zentralbank, gab sich zuletzt noch zuversichtlich: "Obwohl wir eine sehr gute Wirtschaftslage habe und keine Krise, haben wir es mit einer hohen Inflationsrate zu tun", sagte er - schränkte aber ein: Die Inflation in Polen zu dämpfen, dürfe etwa zwei Jahre dauern. "Wir ziehen die Schrauben an, so fest es geht. Aber wir wollen den Patienten auch nicht heilen, indem wir ihn umbringen."

Zweitjob für die Ladenbesitzerin

Übersetzt bedeutet das: Mitte der Woche hat die polnische Zentralbank den Leitzins erhöht - zum elften Mal seit Beginn der Krise - auf inzwischen 6,75 Prozent. Eine Belastung für die Wirtschaft und eine Falle für die vielen Kreditnehmer, die, wie in Polen üblich, keine Zinsbindung haben.

Die Zinserhöhung können aber kaum gegen die Inflation wirken, bemängeln Ökonomen, wenn die Regierung gleichzeitig vor den Wahlen kommendes Jahr in großen Mengen Geld verteilt - und damit die Inflation wieder ankurbelt.

Pani Agnieszka in ihrem kleinen Laden macht sich bei all dem wenig Hoffnung: "Wenn wir bald nur noch für unsere Rechnungen arbeiten und nichts mehr verdienen, dann... Nein, dann machen wir zu."

Neben dem Laden müsse sie ohnehin schon als Krankenschwester arbeiten - im Zweitjob. Dann werde sie das eben zu ihrem Hauptberuf machen.

Martin Adam, ARD Warschau, 16.09.2022 12:44 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete MDR Aktuell am 30. Juli 2022 um 06:30 Uhr.