Julija Nawalnaja in den tagesthemen "Ich bin kein Teil eines imperialen Russlands"
In ihrem ersten TV-Interview im deutschen Fernsehen seit dem Tod ihres Mannes sagt Julija Nawalnaja, sie wolle versuchen, seine Arbeit auch im Exil fortzusetzen und die russische Opposition zu einen. Zugleich wehrt sie sich gegen Vorwürfe.
tagesthemen: Frau Nawalnaja, die Autobiografie Ihr Mannes trägt den Titel "Patriot". Aber wer war er für Sie persönlich?
Julija Nawalnaja: Für mich war mein Mann in erster Linie mein Mann. Er war der Vater meiner Kinder, er war mein bester Freund, er war ein Mensch, den ich sehr bewundert habe, besonders später. Er war Oppositionsführer und er war der große Angstgegner von Wladimir Putin.
Natürlich bin ich mir sicher, dass er ein Patriot unseres Landes war. Und vielleicht erzähle ich Ihnen noch etwas mehr über den Titel dieses Buches. In den letzten Jahren unter Putin ist das immer noch ein sehr positives Wort im Russischen. Patrioten nennt man heute nur die Menschen, die das Regime unterstützen, aber so ist es nicht, denn ein Patriot ist ein Mensch, der sein Land liebt.
Die Angst, im Gefängnis zu landen
tagesthemen: Ihr Mann war überzeugt, dass er für den Kampf gegen Putin vor Ort sein musste, in Russland. Wie können Sie jetzt Menschen aus dem Exil erreichen? Wie können Sie Menschen in Russland erreichen und seine Arbeit fortsetzen?
Nawalnaja: Das ist eine gute und sehr schwierige Frage. Seit Beginn des Krieges hat sich alles geändert. Es ist wichtig, die Menschen zu erreichen, denn manche sind im Exil. Manche sind in Russland, aber sie verhalten sich still, weil sie Angst vor der Unterdrückung haben - und dass sie eines Tages im Gefängnis landen könnten.
Aber es gibt immer noch viele Menschen in Russland, zumeist Unterstützer meines Mannes, die noch im Land sind. Ich tue mein Möglichstes, um mit allen Menschen zu kommunizieren, sowohl im Exil als auch in Russland.
tagesthemen: Nicht jeder glaubt, dass Sie und Ihre Organisation in der Lage sind, die zerstrittene russische Opposition zu einen, erst recht nicht das ganze Land eines Tages. Warum glauben Sie, dass Sie es schaffen können?
Nawalnaja: Ich habe eine Gegenfrage an Sie: Wie viele Parteien haben Sie in Deutschland? Sie haben verschiedene Parteien mit unterschiedlichen Ansichten. Es ist immer so, dass die Menschen in der Opposition unterschiedliche Ansichten haben, und das ist völlig normal.
Für mich ist eines wichtig: Egal, welche Ansichten wir haben, wir sind dadurch geeint, dass wir den selben Feind haben. Das ist Wladimir Putin, er ist korrupt und kriminell.
tagesthemen: Das eint die Opposition?
Nawalnaja: Natürlich. Es ist ganz wichtig, daran zu denken. Wir sind alle Menschen mit unterschiedlichen Ansichten, aber wir kämpfen für ein demokratisches Russland und gegen dieses Regime. Ich denke, das eint alle.
"Niemand weiß, wie Putin besiegt werden kann"
tagesthemen: Wenn es so viele unterschiedliche Meinungen und so viele unterschiedliche Gruppen in der Opposition gibt, mit wem würden Sie zusammengehen und ein neues Russland aufbauen? Denn es gab ja auch Kritik an der Tatsache, dass weder Ihr Mann noch Sie selbst ausgeschlossen haben, mit extrem rechten Nationalisten zusammenzuarbeiten. Wer wären Ihre Partner?
Nawalnaja: Ich finde, wenn man unter einer Diktatur lebt, können alle Menschen, die freie und unabhängige Wahlen wollen und die gegen das Regime kämpfen, das den Krieg begonnen hat, unsere Unterstützer sein und wir können mit ihnen gemeinsam für ein demokratisches Russland kämpfen.
Und dann, wenn dieses Regime eines Tages fällt, gibt es normale demokratische Wahlen. Und dann werden wir sehen, wer mehr Unterstützung erhält.
"Putin hat keine Superkräfte"
tagesthemen: Ihr Mann hat einmal gesagt, wenn Putins Regime ihn umbringt, bedeute das: Das Regime ist schwach. Wo ist heute die Schwachstelle in Putins Regime, wie kann Putin besiegt werden?
Nawalnaja: Das weiß niemand, niemand auf der Welt. Man sieht in allen Gesprächen mit Staatschefs und mit anderen, dass leider niemand weiß, wie man ihn besiegen kann. Wir müssen nur jeden Tag alles daransetzen, diesem Moment näher zu kommen. Aber ich glaube, es geht nicht um das Besiegen oder die Schwäche dieses Regimes als Ganzes.
Ich glaube nicht, dass Putin irgendwelche Superkräfte hat. Ich finde, dass die Menschen weltweit und Regierungen weltweit zu viel Angst vor ihm haben. Und das ist unsinnig, denn da gibt es nichts, wovor man Angst haben muss.
Er spielt nur auf diesem Feld mit der Angst der Menschen und es ist sehr wichtig, den Menschen zu zeigen, dass sie nichts fürchten müssen.
tagesthemen: Sie haben gesagt, der Krieg gegen die Ukraine ist Putins Krieg. Aber eine Mehrheit der Russen steht offenbar dahinter. Ist es nicht doch ein russischer Krieg?
Nawalnaja: Ich denke, es ist Putins Krieg. Wladimir Putin ist der Präsident unseres Landes Russland, er hat diesen Krieg begonnen. Menschen haben unter einer Diktatur Angst, laut zu werden.
tagesthemen: Wenn die Menschen in Russland sich ohne Furcht äußern könnten, glauben Sie, dass die Mehrheit gegen den Krieg in der Ukraine wäre?
Nawalnaja: Ich bin sicher, dass niemand diesen Krieg mag. Das braucht man gar nicht zu diskutieren. Jeder ist gegen den Krieg. Den Krieg hat Wladimir Putin begonnen - und der Krieg sollte sofort beendet werden, am besten gestern.
"Putin will das Land lebenslang beherrschen"
tagesthemen: Sie sprachen und sprechen sich sehr deutlich gegen den Krieg in der Ukraine aus. Gleichzeitig waren Sie skeptisch zu Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine. Sie sind von einigen deutschen Politikern dafür kritisiert worden. Und einer hat gesagt, Sie seien Advokatin eines imperialen Russlands. Wie reagieren Sie darauf?
Nawalnaja: Ich bin nicht Teil eines imperialen Russlands. Ich kämpfe gegen Putins Regime und es ist für mich sehr wichtig, diesen Krieg zu beenden. Ich gebe mein Bestes, um mein Land zu einem demokratischen Land zu machen und diesen Krieg so bald wie möglich zu stoppen.
tagesthemen: Was können Sie den deutschen Zuschauern sagen: Was ist Putins Ziel? Will er alle Länder der früheren Sowjetunion übernehmen, wie wir jetzt gerade an seinem Einfluss auf die Wahlen in Georgien sehen?
Nawalnaja: Ich glaube, Putins Hauptziel ist sehr einfach und klar - und es war von Anfang an sehr klar. Zunächst wollte er sehr reich werden und war sehr korrupt, dann hat er, wie ich schon sagte, erkannt, dass er tun kann, was er will. Dann hat er beschlossen, dass er so etwas wie der Zar von Russland ist und diese Macht so lange wie möglich behalten kann. Er will das Land lebenslang beherrschen.
Das Gespräch führte tagesthemen-Moderator Helge Fuhst. Die Originalfassung wurde für die schriftliche Form gekürzt und angepasst. Das Interview wurde von Nawalnaja vorzeitig mit Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit beendet.