Statue mit Beinprothese

Kriegsversehrte in der Ukraine Eine Klinik, die Hoffnung gibt

Stand: 12.08.2023 14:20 Uhr

Seit der russischen Invasion gibt es in der Ukraine immer mehr Kriegsversehrte. Allein die Zahl der Amputierten wird auf mehrere Zehntausend geschätzt. In einer Reha-Klinik in Lwiw schöpfen sie wieder Mut.

Von Sabina Matthay, ARD Kiew

In den Gängen der ehemaligen Poliklinik im westukrainischen Lwiw herrscht dichtes Gedränge. Der Plattenbau aus der Sowjetzeit wird renoviert und zu einem Reha-Zentrum für Kriegsversehrte ausgebaut. "Unbroken" - "ungebrochen" lautet der Name der Einrichtung, die auch mithilfe ausländischer Sponsorengelder finanziert wird. Der Name ist auch Auftrag für die Therapeuten: "Die Patienten wollen sich ungebrochen fühlen", sagt Psychologe Oleksii, "also tun wir alles für ihre seelische und körperliche Gesundheit".

"In der Klinik sind wir wie eine große Familie"

Die Reha-Klinik in Lwiw dient als Modell. Chirurgie, Orthopädie, Physiotherapie, Psychotherapie werden hier gebündelt, damit künftig 10.000 Patienten jedes Jahr behandelt werden. Michailo, dem Mitte Juni eine Landmine das linke Bein abriss, bereitet sich auf die Anpassung einer Prothese vor. Auch diese wird vor Ort gefertigt.

Physiotherapeutin Roxeliana übt jeden Tag mit ihm an den modernen Geräten im Trainingsraum. "Normalerweise dauert es einen Monat oder auch anderthalb, bis die Wunde verheilt ist und die Prothese angepasst werden kann. Und manche Patienten fangen schon eine Woche später mit dem Laufen an, andere brauchen drei Wochen", erklärt sie. Patient Michailo sei hoch motiviert, da könne es schneller gehen, so die Physiotherapeutin.

Der ukranische Versehrte Michailo sitzt auf einer Bank vorm Krankenhaus.

Dem Ukrainer Michailo riss Mitte Juni eine Landmine das linke Bein ab. In der Klinik bereitet er sich auf die Anpassung einer Prothese vor.

Doch Michailo hat auch schlechte Tage, sagt der 40-Jährige. "Hier in der Klinik sind wir wie eine große Familie. Viele Patienten, viel Mitgefühl, viel Unterstützung. Aber draußen reagieren die Menschen oft ganz anders." Um damit umzugehen, auch mit Depressionen, Angstzuständen, Selbstmordgedanken, bietet die Reha-Klinik psychotherapeutische Betreuung. Michailo etwa macht Kunsttherapie. Sein achtjähriger Sohn, der sehr um den Vater bangt, wird in der Klinik psychotherapeutisch betreut.

Soldaten werden mit Traumata alleingelassen

Allerdings sind Einrichtungen wie die Klinik in Lwiw mit ihrem umfangreichen Angebot Ausnahmen in der Ukraine. Das Gesundheitswesen ist überfordert mit der Rehabilitation der vielen verwundeten Soldaten, sagt die Psychotherapeutin Alina Salnykowa in Kiew. Nach ihrer Erfahrung mangelt es nicht nur an Behandlungsplätzen, sondern auch an geeigneten Therapeuten: "Die wenigsten Therapeuten sind nach modernen Standards ausgebildet", sagt Salnykowa. Deshalb werden die meisten Soldaten mit den Depressionen, den Selbstmordgedanken, der posttraumatischen Belastungsstörung alleingelassen."

Salnykowa befürchtet, dass Gewalt, auch häusliche Gewalt, zunehmen wird, dass viel mehr Menschen in der Ukraine Depressionen und Drogenabhängigkeit entwickeln, auch sehr viel mehr sich das Leben nehmen könnten. Letztlich, sagt die Psychologin, könnten unbehandelte seelische Folgen des Krieges sich auf die ganze Bevölkerung auswirken. Sie befürchtet eine deprimierte, ängstliche, aggressive Gesellschaft, die den Krieg und seine Folgen verdrängt.

Egal, wie der Krieg gegen die russischen Angreifer ausgeht: Möglicherweise werden Generationen Kriegstraumatisierter die Ukraine künftig prägen.

Sabina Matthay, ARD Kiew, tagesschau, 12.08.2023 13:50 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete SWR Aktuell am 12. April 2023 um 11:44 Uhr.