
Holocaust-Überlebende Margot Friedländer "Seid ein Mensch!"
Wachsam sein, wenn Menschen das Menschsein abgesprochen wird: Dieser Appell stand im Mittelpunkt der Rede der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer im EU-Parlament. Im Interview sagt sie: Man darf nicht zusehen und schweigen - und muss seine Chancen nutzen.
ARD: Frau Friedländer, vor 77 Jahren wurde das Vernichtungslager Auschwitz befreit. Was muss in den kommenden Jahrzehnten geschehen, damit die Verbrechen des Holocausts nicht in Vergessenheit geraten?
Margot Friedländer: Ich tue das Beste, was ich tun kann. Mehr kann ich nicht tun. Ich will sagen, was Menschen getan haben. Dass sie Menschen nicht anerkannt haben als Menschen. Es ist die Regierung, die etwas tun müsste. Es sind die Menschen, die wir alle kennen, die nicht still sein dürfen. Ihr dürft nicht schweigen! Macht was! Ihr habt alle die Gelegenheit. Es ist für euch, es ist nicht für mich. Es ist für euch.

Margot Friedländer wurde 1921 in Berlin geboren und 1944 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Den Holocaust überlebte sie als einzige in ihrer Familie. Anschließend zog sie in die USA, bevor sie nach Jahrzehnten wieder nach Deutschland zurückkehrte und insbesondere in Schulen von ihren Lebenserfahrungen berichtet.
Eine kleine Gruppe, die laut ist
ARD: Sehen Sie heute in Deutschland erneut antisemitische Entwicklungen, die Ihnen Sorgen bereiten?
Friedländer: Unter den Millionen von Deutschen ist es nur eine kleine Gruppe. Das muss man bedenken. Aber es sind genug, die laut sind. Und die Presse bringt das alles. Das wird dann noch mehr ausgesprochen. Und dann gibt es wieder Menschen, die andere Menschen in ihren Bann ziehen. Das ist nicht schön.
ARD: Auf den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen wurden in den vergangenen Monaten Symbole gezeigt, die den Judensternen aus der Zeit des Nationalsozialismus ähneln.
Friedländer: Das ist entsetzlich. Unverständlich. Wo gibt es denn sowas? Die benutzen ihn für sich. Es hat überhaupt nichts damit zu tun. Es ist lächerlich. Es ist eine Schande, dass Menschen das machen. Das ist unser Stern.
"Die jungen Menschen dürfen nicht vergessen, was war"
ARD: Woher kommt für Sie heute die größte Bedrohung für eine offene, tolerante Gesellschaft?
Friedländer: Ich bin nicht politisch. Für mich ist ganz wichtig, dass insbesondere die jungen Menschen nicht vergessen, was war. Denn es kann ja immer wieder passieren. Sie sollen wissen, dass nicht nur die Juden umgebracht wurden. Dass Menschen umgebracht wurden. Menschen, weil man Menschen nicht anerkannt hat als Menschen. Es sind so viele Ehemänner und Söhne im Krieg gestorben. So viele haben ihr Hab und Gut verloren. War das denn gut? War das denn nötig? Krieg?
ARD: Glauben Sie, dass ein Rückfall in diese Zeiten möglich ist?
Friedländer: Wie viel Krieg haben wir denn schon gehabt? Gucken Sie, was in der Welt geschieht. Ich meine, es ist doch nichts Gutes. Überall. Afghanistan, Jemen, Syrien.
Aber ich glaube, dass ich im Kleinen etwas erreicht habe. Wir haben einen Margot-Friedländer-Preis. Und da dürfen Schüler aus ganz Deutschland etwas schreiben, auch aus kleineren Orten. Sachen, die sie erkundet haben und Dinge, um die sie sich kümmern. Seien es Stolpersteine oder was es für jüdische Geschäfte in ihrem Ort gab. Und wenn es 60 oder 100 Schüler sind, die schreiben, ist es doch eigentlich schön.
"Ihr habt die Chance, etwas zu lernen"
ARD: Was vermitteln Sie den Schulklassen, die Sie besuchen?
Friedländer: Ich sage den Schülern immer: Mein Bruder Ralph, der 17 Jahre alt war, der war brillant. Aber er hat keine Chance bekommen. Ihr habt die Chance. Ihr habt die Chance etwas zu lernen, gut in der Schule zu sein. Jeder für das, was er machen will. Auch ein Schuster ist wichtig. Das sind Menschen! Es muss nicht jeder Doktor sein oder Anwalt oder irgendetwas. Ein guter Handwerker zu sein, das ist genauso wichtig. Nur, seid ein Mensch.
Das Gespräch führte Tobias Dammers, ARD-Studio Brüssel