Farrah McNutt
weltspiegel

Armut in Großbritannien Wo eine Ex-Ladendiebin Geschäfte berät

Stand: 17.03.2024 12:58 Uhr

Immer mehr Briten leben in Armut, in Lebensmittelläden werden Babynahrung und Brot gestohlen. Farah McNutt hat als Teenagerin geklaut - nun berät sie Ladeninhaber, die sich gegen Diebstahl wappnen wollen.

Den Briten geht es finanziell so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht. Die jahrelange harte Sparpolitik der verschiedenen Tory-Regierungen in Kombination mit dem Brexit und hoher Inflation treiben immer mehr Briten in Armut. In ihrer jüngsten Studie kommt die renommierte Joseph Rowntree-Stiftung zu dem Ergebnis, dass 3,8 Millionen Briten in "destitution", also dauerhafter Armut ohne jede Perspektive leben, davon eine Million Kinder. Zahlen, die sich seit 2017 mehr als verdoppelt haben.

Es trifft aber auch die Mittelschicht. Das reale Haushaltseinkommen der Briten ist im Durchschnitt seit 2019 um 3,5 Prozent gesunken - der dramatischste Fall des allgemeinen nationalen Lebensstandards seit Beginn der Berechnungen in den 1950er-Jahren.  

Ein Symptom der derzeitigen britischen Polykrise: Die erschreckende Zunahme an Ladendiebstählen, die seit vergangenem Jahr Rekordniveau erreicht hat. Das geht aus der jüngst veröffentlichten Kriminalstatistik des vereinigten Königreichs hervor. Demnach wurden in den zwölf Monaten bis September 2023 mehr als 400.000 Fälle von Ladendiebstahl in England und Wales registriert. Der höchste Stand seit Beginn der Zählungen.

Und die gemeldeten Fälle dürften nur ein geringer Bruchteil der tatsächlichen Diebstähle sein, da die Ladeninhaber sich nur in den seltensten Fällen noch überhaupt die Mühe machen, die Polizei zu rufen. Denn auch die ist von der Krise der öffentlichen Dienste betroffen, chronisch unterfinanziert und deshalb oft gar nicht in der Lage rechtzeitig vor Ort zu sein.

Kampf gegen Ladendiebstahl und Armut in England

Annette Dittert, ARD London, Weltspiegel, 17.03.2024 18:30 Uhr

Früher Ladendiebin, jetzt Startup-Gründerin

Immer mehr Briten helfen sich deshalb jetzt selbst. Farah McNutt ist eine davon. Sie hat ein Startup gegründet, der den zunehmend verzweifelten Ladenbesitzern helfen soll. "Catch a thief" heißt ihr Unternehmen. Für einen monatlichen Beitrag berät sie vor allem kleinere Läden, wie sie ihre Mitarbeiter besser absichern können, welche Video-Überwachungsmethoden funktionieren, und welche im Zweifelsfall vor Gericht auch anerkannt werden.

McNutt kennt alle Tricks, denn sie hat als Jugendliche selbst geklaut. Im Auftrag der Älteren in ihrer Clique. Auf die Idee, die Seiten zu wechseln und daraus ein Business zu machen, kam sie erst später, als sie sah, wie viele Läden deshalb zumachen mussten: "Ältere Menschen brauchen diese kleinen Läden aber doch, die können doch nicht irgendwohin fahren, um ihre Milch zu kaufen. Und darüber hab' ich damals nie nachgedacht. Du denkst einfach: Die können das doch einfach ihrer Versicherung melden. Aber das stimmt eben überhaupt nicht."

Denn das, was jetzt hauptsächlich gestohlen wird, sind Brot, Milch und Babynahrung, da lohnt keine Anzeige bei der Versicherung. McNutt versteht die Not dieser Menschen, dennoch findet sie, dass auch Mütter, die Babynahrung stehlen, gestellt werden müssen. "Es gibt doch Hilfe für Menschen in Armut, und nur wenn man sie nicht einfach so davonkommen lässt, können sie diese Hilfsangebote auch finden und wahrnehmen."

Ein Ladenbesitzer vor dem Monitor der Überwachungskamera

Ein Ladenbesitzer zeigt den Monitor, auf den eine Überwachungskamera das Geschehen im Verkaufsraum überträgt.

"Bald bauen wir wieder Armenhäuser"

Ganz so einfach ist das aber nicht. Denn überall in England gehen derzeit Städte und Gemeinden bankrott, da die Regierung in London die Gelder für Kommunen und öffentliche Dienste zunehmend streicht. Das heißt, schon jetzt werden die sozialen Netze immer löchriger. Vielerorts retten nur noch sozial engagierte Einzelkämpfer die Menschen vor totaler Verwahrlosung. Menschen wie Helen. Ihr knall-lilafarben gestrichener Laden in Sheffield, der auf den ersten Blick nur wie ein Trödelladen aussieht, ist tatsächlich viel mehr. Anlaufstelle für Obdachlose, Lebensmittelausgabe für Menschen in Not. Wer kaum Geld hat, kann hier für ein paar Pfund eine Jacke kaufen. Helen hilft jedem, dezent und mit viel Respekt, an manchen Tagen aber verzweifelt sie auch selbst. 

 "Ich kann hier aber niemandem wirklich Hoffnung machen, dass es irgendwann besser wird, das wäre auch nicht ehrlich. Denn eine derartige Armut wie jetzt haben wir hier noch nie gesehen. Wenn ich jetzt Serien aus der Viktorianischen Zeit sehe, und da ausgemergelte Kinder mit löchrigen Schuhen, dann denke ich, ja, da sind wir jetzt wieder. Bald bauen wir wieder Armenhäuser." 

Großbritannien ist eins der reichsten Länder der Welt. Und dennoch: die hier traditionell existierende soziale Ungleichheit hat sich in den vergangenen Jahren so dramatisch verschärft, dass immer mehr Briten tatsächlich auf dem Weg zurück in die dunkleren Zeiten der englischen Vergangenheit zu sein scheinen.

Diese und weitere Reportagen sehen Sie am Sonntag um 18:30 Uhr im "Weltspiegel".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Erste am 17. März 2024 um 18:30 Uhr im Weltspiegel.