Kaja Kallas

Parlamentswahl in Estland Die Wahl nach der Wahl

Stand: 06.03.2023 11:39 Uhr

Estland hat entschieden: Die Partei von Ministerpräsidentin Kallas kann weiter regieren und hat nun die Wahl. Wegen des hohen Stimmenanteils kann sie faktisch jede Koalition bilden, die sie möchte.

Von Niels Walker, ARD-Studio Stockholm

Wählen - das funktioniert in Estland mit einem Klick. Alles, was es dazu braucht, ist ein Computer und die offizielle Wahlsoftware. Mit 51 Prozent haben das bei dieser Wahl so viele Menschen gemacht wie noch nie, meldete die estnische Wahlkommission. 1,2 Millionen Esten waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.

Ein großer Teil davon stimmte für Kaja Kallas' Reformpartei. Der Jubel am Sonntagabend war groß, als die ersten Hochrechnungen online gingen und Kallas sie vorlas. "Die meisten Wähler haben gesprochen und wenn ich es richtig vom Bildschirm ablese, sieht es für uns ziemlich gut aus", sagte sie in einer Übertragung des estnischen Fernsehsenders ETV.

Die wirtschaftsliberale Partei von Kallas kam offiziellen Auszählungen zufolge auf 31,2 Prozent der Stimmen und erhält damit 37 der 101 Mandate im Abgeordnetenhaus, dem Riigikogu.

Estland-Wahl: Partei von Regierungschefin Kallas siegt klar

Kallas mit klarer Haltung zu Russland

Kallas steht für eine pro-westliche Politik und vertritt eine klare Position gegenüber Russland. So sagte sie unter anderem, es könne nicht sein, dass russische Touristen in Europa Urlaub machten, während russische Soldaten in die Ukraine einmarschierten. Mit deutlichen Worten gegenüber Moskau und großer Unterstützung für die Ukraine hat sie Sympathien im Land gewonnen - und verteidigt.

Ihr stärkster Gegner, Martin Helme von der rechtspopulistischen Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE), warf Kallas vor, es bei der Unterstützung der Ukraine zu übertreiben und somit die Sicherheit Estlands zu gefährden. Seine Partei wurde zwar zweitstärkste Kraft, holte mit 15,3 Prozent aber gerade einmal halb so viele Stimmen wie Kallas, die vor allem bei den Onlinewählern und -wählerinnen vorne liegt.

"E-Voting" - einfach und freiwillig

Für das "E-Voting" benötigten die Esten einen Computer, eine ID-Karte und ein spezielles Kartenlesegerät. Die Abstimmung dauert nur wenige Minuten: Nach dem Download der App von der Webseite der Wahlbehörde identifiziert sich der Wähler per PIN-Code, stimmt ab und verifiziert die Wahl mit seiner digitalen Unterschrift - fertig. Alternativ kann auch ein Mobiltelefon mit spezieller SIM-Karte zur Identifizierung verwendet werden. 

Anders als beim traditionellen Urnengang kann sich der Wähler bis zum Wahlschluss nochmals umentscheiden - nur die zuletzt abgegebene Stimme zählt am Ende. Geht er am Wahltag, an dem kein "E-Voting" mehr möglich ist, in ein herkömmliches Wahllokal und gibt einen Papierstimmzettel ab, wird die online abgegebene Stimme annulliert. Die endgültigen Ergebnisse des "E-Voting" sind daher erst nach der Schließung der Wahllokale und einer doppelten Abstimmungskontrolle verfügbar.

Konkurrent kann Wahlergebnis "nicht ernst nehmen"

Im Interview mit dem Sender ETV will Helme Kallas' Erfolg vor allem beim Online-Voting nicht hinnehmen. "Ich sehe es so, dass diejenigen, die mit kontrollierbaren oder nachzählbaren Stimmen gewählt haben, gerade die konservative Weltsicht unterstützt haben. Und wenn die elektronischen Stimmen kommen, ist alles auf den Kopf gestellt. Tut mir leid, aber das kann ich nicht ernst nehmen."

Rein rechnerisch ist es für die Rechtspopulisten nicht möglich, eine Regierungsmehrheit zu bilden, denn mehrere Parteien haben einer Zusammenarbeit eine Absage erteilt. Das Parlament hat 101 Sitze, rechnerisch würden 51 Sitze reichen. Allerdings hat die Vergangenheit gezeigt, dass dünne Mehrheiten nicht immer stabil sind.

Die Qual der Wahl

Kallas hat mit ihrer Reformpartei nun mehrere Optionen, erklärt Anvar Samost, Nachrichtenchef des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders ERR, in der Nacht: "De facto ist es nun eine der historisch größten Fraktionen im Parlament. Von dieser Fraktion aus kann die Reformpartei praktisch jede Koalition bilden, die sie nur möchte. Vielleicht nur mit EKRE wird es nicht klappen."

Die Wunschkoalition der Liberalen bestünde aus Kallas Reformpartei, der sozialliberalen Partei Estlands 200 und den Sozialdemokraten. Das würde für eine Regierungsmehrheit bequem reichen. Möglich wäre aber auch eine Fortführung der bisherigen Koalition mit Sozialdemokraten und der konservativen Vaterlandspartei - oder aber ein Bündnis mit der Zentrumspartei. Kallas hat nun die Wahl nach der Wahl.

"Ich möchte zuerst wirklich all unseren Wählern danken. Danke für dieses Vertrauen. Danke dafür, dass wir die Regierung jetzt schon zwei Jahre führen konnten", sagte Kallas. "Wir sind sehr dankbar, dass sie unsere Arbeit so geschätzt haben."

Das amtliche Wahlergebnis steht noch aus und wir spätestens morgen erwartet.

Niels Walker, ARD Stockholm, 06.03.2023 07:31 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten am 06. März 2023 die tagesschau um 09:00 Uhr und MDR aktuell um 09:08 Uhr.