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Europamagazin

Umgang mit der Rekordinflation "Die Esten sind widerstandsfähig"

Stand: 26.11.2022 16:02 Uhr

Estland leidet unter einer Rekordinflation von mehr als 20 Prozent. Doch die Haltung vieler Menschen im Land ist geprägt von Durchhaltewillen - und von Solidarität mit den Ukrainern.

Den Spaß lässt sich die Familie von Maarja Tinn nicht nehmen. Wenn sie mit ihrem Mann Aron und den drei Kindern zusammen in der Küche das Essen vorbereitet, wird viel gelacht. Gerade darf der vierjährige Teodor das Omelette zubereiten. Früher hat sich die Familie gerne auch mal etwas zum Mittagessen bestellt. Doch mittlerweile ist die Familienkasse leerer geworden, erzählt Maarja. Selbst beim Omelette merken sie das. Denn die Preise in Estland sind nach oben geschnellt.

Im Vergleich zu Deutschland sind die Löhne hier außerdem deutlich niedriger. Maarja arbeitet halbtags an der Uni in Tallinn. 850 Euro bekommt sie im Monat. Ihr Mann Aron ist freier Fotograf. Im Herbst hat er seine Honorare etwas erhöht, damit sie einigermaßen über die Runden kommen. "Ich habe einfach zugesehen, wie das Geld schmilzt - du arbeitest, aber es bleibt nichts übrig."

Besonders die Strom- und Heizkostenrechnungen fressen das Budget auf. Estlands Regierung unterstützt die Bürger mit ein paar Cent pro Kilowattstunde. Aber mehr ist nicht drin. Und trotzdem bleibt die Familie gelassen:

Jetzt gegen die eigene Regierung oder einzelne Unternehmen zu rebellieren wäre nicht richtig. Die Probleme sind eben komplex. Aber der Auslöser für diese Energiekrise ist Russland, Putins Regime, das Energie als Waffe benutzt.

Wie die Esten mit der europaweit höchsten Inflationsrate umgehen

Christian Blenker, ARD Stockholm, Europamagazin

Nicht jeder schafft es aus eigener Kraft

Der Winter ist längst in Estlands Hauptstadt Tallinn angekommen. Vor den Menschen hier liegen nun dunkle und kalte Monate. Im Supermarkt ist das Angebot vielfältig wie immer. Doch Estland muss viele dieser Waren importieren. Die gestiegenen Preise werden durchgereicht.

Die Rekordinflation von über 20 Prozent spüren alle. Nicht jeder schafft es, sie aus eigener Kraft zu stemmen. Die Stadt hilft Tausenden ukrainischen Flüchtlingen und gleichzeitig vielen bedürftigen Einheimischen. Die Anträge haben sich in den vergangenen Monaten vervierfacht. 

"Einen solchen Anstieg haben wir seit der letzten Wirtschaftskrise von 2008 nicht mehr gesehen", erklärt die stellvertretende Bürgermeisterin Tallinns, Betina Beshkina. "Besonders die Alten, die Rentner sind von Armut betroffen. Das zeigen die letzten Zahlen."

Eine Anlaufstelle für bedürftige Senioren

Wer allein von einer mickrigen Rente leben muss, kommt oft in Tallinns Senioren-Selbsthilfeverein. Jeden Mittag füllt sich das Haus, pünktlich um 12 Uhr, weil sie sich hier mit ein paar Cent ein günstiges Essen leisten können. Bei der Handarbeit nebenan reden sie danach oft über ihre Situation.

Früher haben Frauen wie Vaike in einer Textilfabrik gearbeitet. Heute müssen sie sich irgendwie durchschlagen. "Ich suche immer nach Sonderangeboten. Wenn ich den vollen Preis zahlen müsste, würde ich nicht klarkommen." Ihre Freundin Siri fügt hinzu:

Ich habe Mützen und Schals an die Ukrainer geschickt. Wir in Estland wissen, wie schrecklich es dort ist. Das ist auch unser Krieg. Aber eher ertragen wir hier die Inflation als mögliche Bomben.

Kaum Proteste

Eine Haltung, die viele Menschen in Estland teilen. Proteste gegen die Regierung gibt es kaum. Obwohl nicht alle auf Hilfe zählen können. Rentner haben eine Einmalzahlung bekommen und Familien erhalten mehr Kindergeld.

Alle übrigen müssten es so schaffen, so Signe Riisalo, die zuständige Sozialministerin von der wirtschaftsliberalen Reformpartei. "Die Esten sind widerstandsfähig. Auch jetzt. Die große Mehrheit versucht mit der Situation einfach klarzukommen, und als Staat versuchen wir, den Menschen zu helfen." 

"Man muss empathisch bleiben"

Mehr Kindergeld, das hilft auch der Familie von Maarja Tinn ein bisschen. Doch echte Entlastung schaffen sie nur, wenn sie ihre Heizung im Winter runterdrehen. 

Man zieht sich jetzt halt einen Wollpulli und Wollsocken an. Das schaffen wir schon. Man muss empathisch bleiben - wenn wir an das Leben der Menschen in der Ukraine denken, ist es doch nicht erwähnenswert, dass wir zu Hause 19 Grad haben.

Mit ihrem Durchhaltevermögen haben sie die härteste Phase womöglich schon geschafft. Prognosen stimmen optimistisch: Die Inflation soll sich in den nächsten Monaten verlangsamen. 

Diese und weitere Reportagen sehen Sie im Europamagazin - am Sonntag um 12.45 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 27. November 2022 um 12:45 Uhr.