Auf diesem vom Pressebüro des ukrainischen Präsidenten via AP zur Verfügung gestellten Foto inspiziert Wolodymyr Selenskyj die Befestigungslinien in der Region von Charkiw.

Selenskyj in der Ostukraine "Wir verteidigen Charkiw mit Zuversicht"

Stand: 11.04.2024 10:36 Uhr

Erneut hat Russland Energieanlagen im ostukrainischen Charkiw angegriffen. Noch vor zwei Tagen war Präsident Selenskyj dort zu Besuch und gab sich zuversichtlich. Wie leben die Menschen mit der Gefahr?

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Vor den Cafés und Geschäften im ostukrainischen Charkiw summen die Generatoren. Mit gezielten Angriffen hat Russland in den vergangenen Wochen Kraftwerke und Transformatoren der zweitgrößten Stadt der Ukraine schwer beschädigt. Stromausfälle und Probleme mit der Wasserversorgung sind die Folge.

Erneut russische Angriffe - besonders auf die Energieinfrastruktur der Ukraine

Vassili Golod, ARD Kiew, tagesschau, 11.04.2024 20:00 Uhr

Switlana hat ihr Café trotz der Angriffe geöffnet, erklärt sie Reportern von Radio Swoboda. "Es kommen jetzt sogar mehr Menschen, um ihre Handys aufzuladen", sagt sie. Auch Marina versucht sich der Situation in Charkiw anzupassen: "Wir haben uns daran gewöhnt. Die Stromausfälle werden weniger, wir haben Gas. Es wird schon etwas leichter."

Selenskyj: Russland will Charkiw unbewohnbar machen

Nahezu täglich greift Russland ukrainische Städte fernab der Front mit Raketen und Drohnen an. Die ukrainische Führung erwartet im Osten des Landes eine neue russische Offensive. Präsident Wolodymyr Selenskyj lässt sich bei Charkiw neue Verteidigungslinien zeigen. Russland wolle Charkiw durch seinen Raketenterror unbewohnbar machen, warnt er im ukrainischen Fernsehen.

Selenskyj auf der Baustelle einer Verteidigungslinie in der Region Charkiw.

Selenskyj auf der Baustelle einer Verteidigungslinie in der Region Charkiw. Die Millionenstadt nahe der russischen Grenze ist oft Ziel von Luftangriffen.

"Charkiw ist heute geschützt. Nicht aus der Luft, das ist ein anderes Thema", so Selenskyj. "Aber was die Verteidigungslinien betrifft, so ist Charkiw heute nicht in Gefahr." Die Russen verheimlichten nicht, dass die Stadt ein begehrtes Ziel sei - genauso wie der Osten und Süden, Städte wie Charkiw und Kramatorsk seien ihr Ziel. "Aber wir verteidigen Charkiw mit absoluter Zuversicht."

Gegen die ständigen Angriffe aus der Luft aber ist die Stadt nahezu schutzlos. Zu nah liegt Charkiw an der russischen Grenze: Raketen schlagen oft ein, bevor der Luftalarm ausgelöst werden kann. Hinzu kommen seit Neuestem auch Gleitbomben, die russische Piloten Kilometer entfernt abwerfen und die dann selbst in ihr Ziel fliegen.

Militärexperte: Ukraine steht vor einem Dilemma

"Und das ist ein sehr großes Problem", sagt der Militärexperte Mykola Bielieskov, "denn wir können diese Bomben nicht abschießen." Das Maximum, was sie tun könnten, sei die Flugzeugträger abzuschießen. "Aber dafür brauchen wir Flugabwehrsysteme mit einer Reichweite von mehr als 50 Kilometern. Das kann nur das 'Patriot'-System, das wir in begrenzter Zahl haben."

Die Ukraine stehe vor einem Dilemma, so Bielieskov. Soll sie mit ihren geringen Mitteln zur Flugabwehr die Zivilisten in den Städten schützen oder die ukrainischen Truppen an der Front? Beides gleichzeitig geht nicht.

Widerstandsfähige Energieinfrastruktur nötig

Hinzu kommt: Russland konzentriert seine Angriffe auf große Kraftwerke - und verursacht massive Schäden, sagt Wolodymyr Kudryzkyj, Chef des Energieversorgers Ukrenergo. "Parallel zur Reparatur müssen wir neue Kraftwerke bauen, um die sehr stark beschädigten Kraftwerke zu ersetzen", erzählt er. "Ihre Reparatur wird sehr lange dauern. Und es ist klar, dass, wenn wir über eine neue Generation von Kraftwerken sprechen, diese Anlagen nicht an einem einzigen Punkt konzentriert sein sollten."

Viele kleinere Kraftwerke verteilt über das Gebiet der Ukraine - so stellt sich der Ukrenergo-Chef eine widerstandsfähige Energieinfrastruktur der Zukunft vor. Doch davon ist die Ukraine noch Jahre entfernt. Und bis dahin dringend auf mehr Luftverteidigungssysteme aus dem Westen angewiesen.

Rebecca Barth, ARD Kiew, zzt. Berlin, tagesschau, 11.04.2024 08:55 Uhr