Ukrainische Soldaten werfen bei einer Übung in der Region Donezk eine Granate
reportage

Rekrutierung in der Ukraine "Ich habe ja keine Wahl"

Stand: 01.04.2024 03:56 Uhr

Die ukrainische Armee braucht dringend neue Soldaten. Viele ältere Männer, die eingezogen werden, tun sich in der Ausbildung häufig schwer. Manche Einheiten sprechen deshalb mit eigener Werbung gezielt junge Männer an.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Ein starker Wind weht über das weitläufige Gelände nördlich von Kiew. Unzählige Kleingruppen von Soldaten üben hier für den Einsatz. Sie liegen im Sand und zielen in die Ferne, werfen Übungsgranaten oder springen in ausgehobene Schützengräben. Auf dem Truppenübungsplatz bildet die ukrainische Armee neue Soldaten aus. Es sind unerfahrene Rekruten mit versteinerten Mienen.

"Ich habe ja keine Wahl", murmelt einer der Männer, bevor er mit einem Ausbilder im Nacken Richtung Schützengraben rennt. Die allermeisten Männer sind von der Armee eingezogen worden, kaum einer scheint freiwillig hier zu sein, auch wenn das niemand offen sagen will.

Wenn die Fitness nachlässt

Auch Jurij hat einen Einberufungsbescheid bekommen - nun macht ihm zu schaffen, dass er sich vor der Einberufung "kaum körperlich betätigt" hat. Es werde wohl einige Zeit dauern, bis er sich an daran gewöhnt habe, sagt er.

55 Jahre ist Jurij alt, nicht das beste Alter für kräftezehrende Grabenkämpfe ohne ausreichend Munition gegen überlegene russische Truppen.  

Aus einem Lautsprecher dröhnt Gefechtslärm. Das dient der psychologischen Vorbereitung, die Neuen sollen sich so gut wie möglich an den Stress im Schützengraben gewöhnen. Einen Monat haben sie dafür mindestens Zeit.

Probleme schon in den Übungen

Doch das hohe Alter der Einberufenen macht vielen schon in der Ausbildung Probleme. Die Arme schmerzen beim Werfen der Übungsgranaten. Die Männer klagen. Dass das den Rekruten Schwierigkeiten bereitet, bemerkt auch Ausbilder Valentin Rybatschuk, der konstatiert, nur einer der neuen Soldaten sei in der Lage gewesen, diese Übung korrekt auszuführen.

Rybatschuk weiß: "In dieser Altersklasse haben die Leute mehr Krankheiten, eine kaputte Schulter oder andere körperliche Probleme."

Die ukrainische Armee leidet aktuell nicht nur unter Personalmangel, auch Artilleriemunition ist knapp. Die Einheiten an der Front müssen sparen, entsprechend ernst sind die Gesichter auf dem Truppenübungsplatz.

Ausbilder Rybatschuk hätte gerne mehr Zeit, um seine Männer vorzubereiten. Vier Wochen dauert die Grundausbildung, aber vor allem ältere Rekruten bräuchten mehr Zeit, sagt Rybatschuk. Denn wenn jemand die Aufgabe nicht richtig verstehe, sehe er als Ausbilder "keinen Sinn darin, ihn dort hinzuschicken. Wir bereiten schließlich kein Kanonenfutter vor. Wir bereiten Menschen auf den Kampfeinsatz vor, wo sie eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen haben."

Eine Brigade will nicht warten

Ein ganz anderes Bild bietet sich in Kiew im Ausbildungszentrum bei der berüchtigten 3. Sturmbrigade. Sie gilt als kampferprobt und professionell, wird in den gefährlichsten Bereichen an der Front eingesetzt. Die Einheit rekrutiert ihre Soldaten eigenständig, mit cooler Werbung und Videospiel-ähnlichen Filmen der Fronteinsätze.

Ein junger Mann, der sich Chort nennt, schwärmt von seinen Ausbildern: "Das sind Leute, zu denen ich aufschaue, sie sind Rockstars! Sie behandeln uns wie Waffenbrüder. Sie haben durchgemacht, wovon wir alle nicht einmal zu träumen gewagt hätten." Und trotzdem seien sie Menschen geblieben, seien "anständig" und so wie er selbst. "Sie spielen keine Rolle. Sie sind hier und sprechen mit mir als wären wir Brüder, wie eine Familie."

Chort, dessen Augen vor Aufregung und Ehrfurcht glänzen, bezeichnet sich als Nationalisten. In dem Grundkurs lernt er zuerst einmal, sein Gewehr richtig zu halten, zu schießen, im Stehen, kniend und im Liegen.

Vor allem müssten sie sich auf dem Schlachtfeld liegend richtig bewegen können, ruft der Trainer, ein junger Mann mit einem auffälligen Tattoo auf dem Hals. Auch in den unterirdischen Schutzräumen müssten die Soldaten meistens liegend feuern, erklärt er, denn es handele sich um einen Artilleriekrieg gegen die Infanterie - "und Ihr seid die Infanterie".

Der Ausbilder korrigiert die Haltung der Rekruten. Viele der Männer sind erst Anfang 20. Sie stehen aufgereiht und umklammern ihre Gewehre, einige in Sporthosen und Joggingschuhen, die Helme sitzen schräg.

"Ich warte auf Rache"

Maksim hingegen ist ein hochgewachsener, kräftiger Typ Ende 20. Er verteidigte zuerst Kiew, ließ sich dann per Helikopter in das umzingelte Mariupol fliegen, saß nach der Eroberung der Stadt durch die russische Armee 13 Monate in Kriegsgefangenschaft, bevor er ausgetauscht wurde.

Maksim ist einer der Ausbilder, vor denen der Rekrut Chort so große Ehrfurcht hat. Er ist kampferfahren, ein echter Krieger in den Augen der Neuen und für viele ein Vorbild. Es sind Biografien wie die von Maksim, die Chort motivieren.

Er könne es kaum erwarten, seinen ersten Feind zu sehen, erklärt der Rekrut, der aus der Hafenstadt Odessa stammt. Neben Nationalismus und einer gewissen Vorstellung darüber, wie ein echter Mann zu sein hat, motiviert ihn vor allem eines: nun in den Kampf zu ziehen.

Er erzählt von seinem besten Freund seit den Tagen der Kindheit, der im vergangenen Sommer gefallen sei. "Ich warte auf Rache. Er war der Beste. Für mich ist es eine Ehre, hier zu sein. Und es tut mir so leid, dass ich in diesem Moment nicht bei ihm war."

Zahlen werden nicht genannt

Wie groß die Verluste der ukrainischen Armee sind, ist nicht öffentlich bekannt. Von 30.000 getöteten Soldaten spricht der Präsident, aber viele gehen von weitaus mehr aus. Ausbilder Maksim sagt weder, wie viele Kämpfer die Einheit schon verloren hat, noch wie viele Freiwillige im Monat rekrutiert werden. Nur eines sagt er: Es würden immer neue Leute benötigt.

Wie schlecht die Situation der Armee an der Front tatsächlich ist, lässt eine Sanitäterin der 3. Sturmbrigade bei einer Infoveranstaltung durchblicken, als sie vom ersten Kampfeinsatz neuer Rekruten ihrer Brigade berichtet - in Awdijiwka:

Sie sind 19, 20, 22, Jahre und ihr erster Kampfeinsatz ist diese Hölle! Ich habe mit den Jungs gesprochen, die in Bachmut waren und sie sagten: Wenn man Bachmut mal zehn nimmt, dann kommt man ungefähr auf das, was Awdijiwka war.

Angriffswelle folgte auf Angriffswelle, bis die Ukrainer ihre Magazine verschossen hatten. Gleitbomben machten mehrstöckige Gebäude innerhalb kürzester Zeit dem Erdboden gleich, ohne, dass die ukrainischen Truppen sich dagegen hätten schützen können. Am Ende flohen die Ukrainer, mussten wehrlose und verletzte Kameraden sogar zurücklassen.

Auf solche Kämpfe sollen Juri auf dem Truppenübungsplatz und Chort im Ausbildungszentrum vorbereitet werden. Beide Männer verbindet nicht viel, nur eines: Jetzt habe nur noch Gott ihr Schicksal in den Händen, sagen sie.

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 27.03.2024 09:37 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 01. April 2024 um 09:00 Uhr.