Archivbild: Soldaten sichern die U-Bahnstation Maelbeek.

Brüsseler Anschläge 2016 "Wir stehen morgens auf und es ist nicht vorbei"

Stand: 16.09.2023 13:12 Uhr

Die Attentäter der Brüsseler Terroranschläge 2016 müssen viele Jahre in Haft. Können mit dem Prozessende auch die Opfer einen Schlussstrich ziehen? Eine Überlebende schildert, wie schwierig das ist.

Von Maria Bravo, ARD Brüssel

Mehr als sieben Jahre nach den Anschlägen ist das Gerichtsverfahren zu den Brüsseler Terroranschlägen im März 2016 zu Ende gegangen. Das Gericht verkündete nun das Strafmaß für die acht Beteiligten in Brüssel. Ob mit dem Ende des Prozesses auch die Opfer einen Schlussstrich unter den Terroranschlag ziehen können, ist eine andere Frage.

Zumindest Sabine Borgignons weiß, dass diese Geschichte für sie nie abgeschlossen sein wird: "Bei mir bleiben die Narben ein Leben lang. Es gibt Opfer die Albträume haben, Opfer, die keine Beine mehr haben." Borgignons überlebte den Anschlag schwerverletzt.

Sabine Borgignons

Sabine Borgignons steht in der Brüsseler U-Bahn-Station Maalbeek, in der eine der drei Bomben explodierte.

Im Waggon starben alle um sie herum

Wir treffen sie, kurz bevor das Strafmaß für die Täter verkündet wird und gehen zusammen zur U-Bahn-Station Maalbeek mitten im Brüsseler Europaviertel. Allein betritt sie diesen Ort nicht gern. Hier explodierte eine der insgesamt drei Bomben um kurz nach neun Uhr morgens in einem Bahnwaggon.

Sie blickt sich um: "Der Attentäter saß hinter mir. Vielleicht haben mich die Stühle gerettet, ich weiß es nicht. Ich stelle es mir so vor, weil ich weiß, dass alle um mich herum tot sind." Sabine Borgignons hat keine Erinnerung mehr an diesen Tag. Nicht an diesen und auch nicht an viele andere nach dem Attentat.

Übersät mit Metallsplittern wurde sie zunächst für tot gehalten, kam dann aber ins Krankenhaus. "Die Ärzte sagten meinen Eltern, dass ich mich vielleicht nie erinnern werde, dass ich nicht mehr sprechen kann, dass ich nicht mehr laufen kann." Doch die 49-Jährige kann wieder laufen, wieder sprechen und mittlerweile auch wieder lachen.

Reue der Täter für Borgignons unglaubwürdig

Was sie nicht kann, ist, ihren ehemaligen Beruf als Schmuckdesignerin ausüben. Verbrennungen dritten Grades an einer Hand haben das unmöglich gemacht. Sieben Jahre nach dem Anschlag spürt sie die Folgen des Anschlags immer noch: "Ich kann nicht hören, wenn jemand mit mir spricht, wenn er hinter mir ist." Ihr Trommelfell ist beschädigt, auch die Beine machen nicht mehr so gut mit wie früher. Große Narben über dem linken Auge erinnern Borgignons jeden Tag an das, was ihr widerfahren ist.

Für diese Taten verhängte das Gericht nun lebenslange Haft für drei Beteiligte, darunter der Belgier Mohamed Abrini. Drei weitere erhielten Haftstrafen zwischen zehn und 30 Jahren. Für zwei der Täter gab es laut Nachrichtenagentur Belga keine neuen Strafen, darunter der Franzose Salah Abdeslam: Er wurde schon in einem früheren Prozess wegen Schüssen auf Polizisten zu 20 Jahren Haft verurteilt. Als Hauptverantwortlicher für die Pariser Terroranschläge sitzt er bereits eine lebenslange Haftstrafe in Frankreich ab.

Borgignons hat den Prozess intensiv mitverfolgt, hat selbst ausgesagt. Das war nicht immer leicht. Den letzten Worten der Täter zu glauben, fällt ihr schwer. "Ja, vielleicht bereuen sie es", sagt sie, "aber wenn es wirklich so wäre, dann hätten sie das nicht getan. Es wäre nicht einmal so weit gekommen."

Angst vor dem Vergessenwerden

Trotz ihrer Wut ist die Höhe der Strafen für die Täter Borgignons nicht wichtig. "Was mit ihnen passiert, wird mein Leben nicht verändern. Sie werden aus dem Gefängnis kommen." Damit sei die Sache für die Verurteilten abgeschlossen, davon ist sie überzeugt. Anders als für Opfer wie sie: "Wir stehen morgens auf und es ist nicht vorbei."

Auch deshalb blicken einige Betroffene, die Borgignons kennt, mit Sorge auf das Ende des Prozesses: "Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die wütend sind und die Angst haben, vergessen zu werden als Opfer. Dass der Staat jetzt so handelt, als wenn es vorbei sei und man sich anderen Sachen widmen könnte." Opfer-Organisationen hatten wiederholt die mangelnde Unterstützung des Staats kritisiert.

Prozess im Mittelpunkt

Borgignons gehört nicht zu denen, die Angst davor haben, vergessen zu werden. Sie ist froh, dass mit dem Prozessende nun ein Kapitel zu Ende geht. Denn das Verfahren und die Anschläge haben ihr Leben lange Zeit bestimmt. "Ich hoffe, mich wieder um meinen Sohn kümmern zu können - ohne über den Prozess zu sprechen, ohne über das Attentat zu sprechen, denn wir haben viel darüber gesprochen."

Was ihr nächstes Projekt sein wird, weiß die 49-Jährige noch nicht. Aber sie blickt zuversichtlich in ihre Zukunft: "Mein Bruder hat gesagt: Wenn du noch am Leben bist, obwohl alle um dich herum tot sind, dann hast du etwas auf dieser Erde zu tun."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. September 2023 um 01:00 Uhr.