Tausende in Bergkarabach protestieren am 14. Juli gegen die verheerende Versorgungslage

Armenien und Aserbaidschan Furcht vor Vertreibung aus Bergkarabach

Stand: 25.07.2023 16:23 Uhr

Seit mehr als 30 Jahren schwelt der Konflikt um die Region Bergkarabach zwischen Armenien und Aserbaidschan. Nun drängt Aserbaidschan auf eine endgültige Lösung. Sie könnte zur Vertreibung der Armenier dort führen.

Ruhe für die Menschen, Stabilität für die Region - ein Friedensabkommen noch in diesem Jahr soll den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan beenden, in dessen Zentrum die Region Bergkarabach steht. Überwiegend von Armeniern bewohnt, befindet sie sich auf dem völkerrechtlich anerkannten Territorium von Aserbaidschan.

Doch was die Armenier in Bergkarabach erleben, ist alles andere als Frieden. Vielmehr fürchten sie um ihr Überleben dort. Seit Mitte Dezember verschlechterte sich die Versorgungslage zusehends, weil Aserbaidschan Transporte über den einzigen Zugang von Armenien nach Bergkarabach, den Latschin-Korridor, mehr und mehr einschränkt.

Ende April ließ Präsident Ilham Alijew dort einen Grenzkontrollpunkt errichten - wozu Aserbaidschan jedes Recht habe, wie er nicht müde wird zu betonen. Er nutzt es aber, um die Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach endgültig zu kappen. Seit Monaten schon ist die Strom- und Gasversorgung aus Armenien unterbrochen.

Es kommen nur noch wenige Waren an

Nur die russischen Truppen und das Internationale Rote Kreuz durften noch lebensnotwendige Güter und Kranke transportieren, aber auch dies unterbindet Aserbaidschan zeitweise - zuletzt unter dem Vorwurf, in Fahrzeugen des Roten Kreuzes seien "nicht-humanitäre Güter" versteckt worden. Dabei soll es sich um Mobiltelefone, Zigaretten und Treibstoff gehandelt haben.

Die Einwohner berichten seit Wochen von leeren Regalen in den Märkten. Nun könne mangels Benzin auch zwischen den Dörfern und der Hauptstadt Stepanakert kein Brot, Obst und Gemüse mehr transportiert werden. Außerdem attackierten aserbaidschanische Streitkräfte immer wieder Bauern, die ihre Felder bestellen wollten, beklagen Einwohner.

Für sie ist damit klar: Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew will sie aushungern und vertreiben. Langfristiges Ziel sei die vollständige "ethnische Säuberung", fürchtet deren Präsident Arajik Harutjunjan.

"Friedenstruppen", die keinen Frieden bringen

Noch verfügen die Armenier in Bergkarabach über bewaffnete Kräfte. Aserbaidschan bezeichnet sie als "illegal bewaffnete Gruppen" und "Terroristen", oder auch als Einheiten der Streitkräfte Armeniens, die heimlich von dort versorgt würden. Die armenische Seite beharrt jedoch darauf, dass es sich um unabhängige Selbstverteidigungskräfte Bergkarabachs handele.

Ihre Entwaffnung hätten die russischen "Friedenstruppen" längst umsetzen sollen, so der Vorwurf Alijews an die Regierung in Moskau. Deren Präsenz ist Teil einer Waffenstillstandsvereinbarung vom November 2020. Sie beendete einen sechswöchigen Krieg, bei dem Aserbaidschan einen Großteil des Gebietes um Bergkarabach zurückeroberte, das Armenien Anfang der 1990er-Jahre eingenommen hatte.

Die russischen Truppen sollen die Armenier schützen, doch mehrfach schon rückten aserbaidschanische Truppen ungehindert vor. Auch der Blockade des Latschin-Korridors setzt Russland nur verbale Forderungen an die Regierung in Baku entgegen.

Einerseits ist fraglich, was die russischen Truppen gegen die modernisierten Streitkräften Aserbaidschans ausrichten könnten, sind doch die meisten Kräfte in der Ukraine gebunden. Andererseits ist Aserbaidschan für Russland aus wirtschaftlichen und sicherheitsstrategischen Gesichtspunkten wichtiger als der eigentliche Verbündete Armenien.

Lage "eindeutig nicht tragbar"

Internationale Aufmerksamkeit trägt offensichtlich dazu bei, dass Alijew momentan nicht wie 2020 seine Ziele militärisch durchzusetzen versucht. Mehrere Staaten verstärkten den diplomatischen Druck, nachdem aserbaidschanische Streitkräfte im vergangenen September auf Territorium Armeniens selbst vorgedrungen und Gebiete besetzt hatten. Die USA stiegen auf Ebene der Außenminister in die Vermittlung zwischen Armenien und Aserbaidschan ein.

Die EU entsandte eine Beobachtermission. Zwar ist sie unbewaffnet und darf nur innerhalb Armeniens patrouillieren. Aber sie wäre doch in der Lage, massive aserbaidschanische Truppenbewegungen zu melden. Außerdem vermittelt die EU zwischen beiden Staaten.

Am 15. Juli kamen Alijew und Armeniens Premier zum sechsten Mal auf Einladung von EU-Ratspräsident Charles Michel zusammen. Anschließend erklärte Michel, die Lage sei "eindeutig nicht tragbar", der Latschin-Korridor müsse geöffnet werden.

Mit einer weiteren, wenn auch vorsichtig formulierten Aussage sorgte Michel jedoch für erhebliches Misstrauen auf armenischer Seite: Er habe "zur Kenntnis genommen", dass Aserbaidschan zur Lieferung humanitärer Güter nach Bergkarabach bereit sei.

Viele Armenier sahen darin einen Freibrief für Alijew, den Weg nach Armenien ganz zu schließen. Die EU betonte daraufhin, eine Versorgung über die aserbaidschanische Seite sei nur als Ergänzung zu verstehen. Das Beispiel zeigt, wie angespannt die Stimmung unter den Armeniern ist.

Warnung vor neuem Krieg

Die Regierung in Baku forderte die Führung Bergkarabachs mehrfach zu direkten Gesprächen auf, verlangt aber zugleich deren Auflösung und droht mit Festnahmen. Armenien setzt sich für eine internationale Vermittlung zwischen beiden Seiten sowie international garantierte Rechte und Sicherheiten für die Bevölkerung ein. Auch EU-Ratspräsident Michel sprach davon, ohne allerdings zu sagen, wer diese Garantien durchsetzen soll.

Russland ist in den Augen beider Konfliktparteien diskreditiert, auch wenn es neben der EU und den USA weiter als Vermittler zwischen beiden Seiten auftritt. Aserbaidschan fordert, inzwischen unterstützt vom Verbündeten Türkei, den Abzug der russischen "Friedenstruppen" im Jahr 2025. Das ist laut Waffenstillstandsvereinbarung vorgesehen. Doch Russland zeigt keine Bereitschaft, internationales Engagement in Bergkarabach zuzulassen.

Während die Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan zumindest weitergehen, verschlechtert sich die Lage vor Ort täglich. Paschinjan sprach nun von einem "Ghetto" und einer "Politik der ethnischen Säuberung". Unter den Menschen in Armenien wächst die Unruhe. Geplant sind parallele Proteste dort und in Bergkarabach.

Der Premier fürchtet einen neuen Krieg und spiegelt damit eine weit verbreitete Stimmung im Land. Zwar erholt sich Armenien nur langsam von der schweren Niederlage im Krieg 2020. Es wird trotz anvisierter Rüstungskäufe zum Beispiel aus Indien absehbar nicht mit Aserbaidschan mithalten können. Doch sollte es keine für die Armenier akzeptable Lösung geben, droht ein jahrelanger Guerilla-Krieg, den die Führung Armeniens nicht kontrollieren könnte.

Aussichten auf massive Instabilität in der Region sind allerdings auch nicht im Interesse Aserbaidschans, das auf Investitionen aus dem Ausland angewiesen ist. Deshalb könnte internationaler Druck doch etwas bewirken.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 16. Juli 2023 um 23:27 Uhr.