
Erdbeben in der Türkei Wie viel Katastrophe, wie viel Versagen?
Die Schäden des verheerenden Erdbebens in der Türkei hätten begrenzt werden können - darin sind sich Experten einig. Der Staat habe jahrzehntelang falsch gehandelt und illegales Bauen gebilligt.
Die Opferzahlen nach dem Erdbeben in der Türkei dürften auf einen neuen Rekord steigen. Beim bisher verheerendsten Beben 1999 waren es knapp 18.000 Tote. Damals dachte man, so etwas werde es nie wieder geben. Denn das Land reagierte, Bauvorschriften wurden verschärft. Jetzt mehrt sich die Kritik, dass der Staat bei der Prävention versagt hat.
Einstürze dürften nicht passieren
Cemal Gökce war lange Vorsitzender der türkischen Bauingenieurskammer. Für ihn ist es ganz simpel, wenn es um erdbebensicheres Bauen geht: "Nach Vorschriften gebaute Gebäude stürzen nicht ein. Wir Ingenieure sagen: Ein Gebäude kann Schäden haben, aber es darf nicht in sich zusammensacken", so Gökce.
Es dürfe einfach keine Toten geben. Die Gebäude, in denen keine Menschen sterben, seien folglich vorschriftsmäßig gebaut. Bei ihnen handele es sich dann um kontrollierte Gebäude.
Erdbebensicherheit als Kostenfaktor
Spezielle Ingenieure prüften Neubauten auf Erdbebensicherheit, erklärt Gökce weiter. Sie bräuchten dafür dann eine Zulassung vom Staat. Im Gegensatz zu Deutschland müssten diese Ingenieure aber keine Extra-Prüfung ablegen, kritisiert er.
Und viele nähmen es mit der abschließenden Kontrolle nicht so genau. Erdbebensicherheit koste Geld, das mancher Bauunternehmer nicht ausgeben wolle.
Korruption und Fehlplanung
Oya Özarslan von der Organisation Transparency International in der Türkei, die sich mit Korruption beschäftigt, schildert ähnliche Probleme. Beispielweise hatten Experten vor dem Bau des Flughafens von Hatay gewarnt, der Standort sei nicht geeignet.
"Der Flughafen von Hatay wurde auf einem Gelände gebaut, wo früher mal ein See war. Den haben sie ausgetrocknet und dann da den Flughafen gebaut. Das war von Anfang an falsch. Und jetzt liegt praktisch der Beweis vor, dass es tatsächlich ein Fehler war", so Özarslan.
Hatay ist eine der Regionen, in der das aktuelle Erdbeben besonders viel Schaden angerichtet hat, auch am Flughafen. Er kann nicht mehr genutzt werden. Ähnlich sieht es mit einem Krankenhaus dort aus. Das hätte eigentlich gar nicht mehr betrieben werden dürfen, erklärt Özarslan mit Verweis auf ein Gutachten. Jetzt ist von dem Gebäude nicht mehr viel übrig.
Illegales Aufstocken ist gängige Praxis
Der Ingenieur Gökce erzählt von einer anderen gängigen problematischen Praxis: "Ein Grundproblem in der Türkei ist, dass auf vorschriftsmäßig gebaute Gebäude illegale Stockwerke gesetzt werden, ohne auf Vorschriften zu achten." Diese illegalen Stockwerke drückten mit ihrem hohen Gewicht auf die Konstruktionen, so dass sie selbst ohne Erdbeben einstürzen könnten.
Er nennt das Beispiel eines ursprünglich fünfstöckigen Hauses, auf das noch mal drei Stockwerke illegal aufgesetzt wurden. 21 Menschen starben letztendlich in den Trümmern. Die Bauherren setzten bei solchen illegalen Baumaßnahmen einerseits darauf, dass keiner kontrolliert, andererseits, dass der Staat eine Amnestie erlässt. In der Vergangenheit habe es das immer wieder gegeben, gerne auch vor Wahlen.
Diese Probleme sind nicht neu, vor allem sind sie nicht erst unter der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgetreten: "Das gab es auch schon in der Vergangenheit. Aber jetzt ist es zur Regel geworden. Wir leben in einer Zeit, in der Unregelmäßigkeiten zur Regel geworden sind."
Regierung nutzt Gelder an anderer Stelle
Nach dem letzten großen Erdbeben 1999 führte die damalige Regierung eine Erdbeben-Steuer ein. "Mit den eingetriebenen Steuergeldern sollten eigentlich Gebäude, die nicht erdbebensicher waren, verstärkt oder abgerissen und neu gebaut werden", sagt Gökce. Es sei auch wirklich viel Geld zusammengekommen. "Aber sie haben mit diesem Geld Straßen gebaut. Das Geld ist nicht für Gebäude verwendet worden."
Der Experte ärgert sich. Die Türkei habe das Know-how, erdbebensicher zu bauen. Als erste Konsequenz aus der aktuellen Katastrophe fordert er, die gut ausgebildeten Ingenieure müssten einfach nur zum Einsatz kommen: "Zweitens müssen Gebäude in Städten mit Erdbebenrisiko, angefangen bei den ärmeren Regionen, erneuert werden. Oder solche, die nicht abgerissen und neu gebaut werden sollen, müssen verstärkt werden."
Präsident Erdogan ist seit zwei Tagen im Erdbebengebiet unterwegs. Er verspricht, innerhalb nur eines Jahres wolle er die Region wieder aufbauen.