Ein Wähler in Taiwan hält ein Banner mit der Aufschrift "Taiwan soll frei bleiben" hoch
interview

Präsidentenwahl in Taiwan "Es steht die Kriegsfrage im Raum"

Stand: 12.01.2024 14:23 Uhr

Die heutige Präsidentenwahl in Taiwan wird weltweit mit großer Spannung verfolgt. Denn die Kandidaten stehen auch für unterschiedliche Haltungen gegenüber China. Der Taiwan-Experte Klöter erklärt im Interview, was diese Wahl so heikel macht.

tagesschau.de: Taiwan wählt einen neuen Präsidenten - warum ist das für die gesamte Region, aber auch für den Westen insgesamt relevant?

Henning Klöter: Das hängt mit dem politisch ungeklärten Status Taiwans zusammen. Taiwan, das sich selbst Republik China nennt, ist international nicht anerkannt. Die Volksrepublik China, also das international anerkannte China, erhebt territorialen Anspruch auf Taiwan. Taiwan widersetzt sich dem seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs, also seit 1949, und immer, wenn es zu einer Wahl in Taiwan kommt, ist der ungeklärte politische Status Taiwans ein vorherrschendes Thema. Die Volksrepublik macht seit Jahren in einem immer größeren Ausmaß deutlich, dass sie diesen offenen Zustand nicht weiter hinnehmen will und droht unverhohlen mit Krieg. Von daher steht auch eine Kriegsfrage im Raum.

Henning Klöter
Zur Person

Professor Henning Klöter lehrt am Institut für Asien- und Afrikawissenschafen der Humboldt-Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören neben Chinesisch Taiwan-Studies.

Kandidat der Kontinuität

tagesschau.de: Vizepräsident Lai Ching-te geht als Favorit ins Rennen. Was würde sich durch ihn ändern; insbesondere mit Blick auf die Volksrepublik?

Klöter: Lai würde vermutlich die Politik der amtierenden Präsidentin Tsai Ing-wen, die ja nicht mehr kandidieren darf, fortsetzen. Das heißt: die Volksrepublik rhetorisch verbal nicht zu offensiv angehen, einen milden Ton anschlagen, aber sich gleichzeitig auf die Position zurückziehen, dass Taiwan quasi bereits unabhängig ist. Lai würde Taiwan deshalb wie Präsidentin Tsai nicht weiter für die Volksrepublik öffnen, zum Beispiel in Handelsfragen.

tagesschau.de: Die Aussicht, dass Lai die Wahl gewinnen könnte, hat in der Volksrepublik zu verstärkten militärischen Drohgebärden geführt. Haben Sie den Eindruck, dass das einen Einfluss auf das Wahlverhalten der Bürger haben wird?

Klöter: In einem bestimmten Maß wird das sicher so sein. Aber man darf nicht vergessen, dass es die Wählerinnen und Wähler nicht anders kennen. Seit der ersten demokratischen Präsidentenwahl im Jahr 1996, die ja auch von sehr starken Manövern und Drohgebärden seitens China begleitet war, war es noch bei jeder Präsidentenwahl so. Drohungen aus Peking sind in einer taiwanesischen Wahrnehmung nichts Neues. Zugleich spüren die Wähler eine stärkere Aggression, zumal Chinas Präsident Xi Jinping zum ersten Mal konkrete Fristen für eine Vereinigung mit Taiwan formuliert hat. Und auch durch den Ukraine-Krieg hat man in Taiwan gemerkt, dass das Undenkbare plötzlich konkret wird. All das schwebt vor der Wahl im Raum.

Profilierung als "Kandidat des Friedens" und als "dritte Option"

tagesschau.de: Hou Yu-ih, der Kandidat der größten Oppositionspartei Kuomintang (KMT), spricht selbst von einer Wahl zwischen Krieg und Frieden. Was würde die KMT, die Taiwan viele Jahre beherrscht beziehungsweise regiert hat, tun, um die Spannungen mit China zu reduzieren?

Klöter: Hou hat sich stark zu dem positioniert, was er nicht will. Er will nicht die sehr ablehnende Haltung der amtierenden Präsidentin gegenüber der Volksrepublik fortsetzen. Er will sich aber auch nicht auf die Formel "Ein Land, zwei Systeme", die ja lange von der Volksrepublik China als Lösung vorgeschlagen wurde, einlassen. Er hat angedeutet, dass er durchaus wieder Gespräche führen will und hat die amtierende Präsidentin und den Kandidaten Lai stark dafür kritisiert, dass der Dialog zu China weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Seine immer wieder formulierte Formel "Wahl zwischen Krieg und Frieden" war auch ein rhetorischer Schachzug, mit dem versucht werden sollte, Lai als Unsicherheitsfaktor zu brandmarken und sich selbst als denjenigen zu konturieren, der für den Frieden stehen würde.

"Drohrhetorik gegenüber Taiwan deutlich verschärft", Henning Klöter, Humboldt Universität Berlin, zu Chinas Verhalten vor Wahlen in Taiwan

tagesschau24, 12.01.2024 14:00 Uhr

tagesschau.de: Der letzte Präsident, den Hous Partei gestellt hat, hat sich 2015 mit Xi Jinping in Singapur getroffen und ein Handelsabkommen unterzeichnet. Wäre das heute überhaupt noch denkbar?

Klöter: Dieses "Erbe" und die Frage, wie man mit dem letzten Parteigenossen als Präsident umgeht, war für Hou auf der Zielgraden des Wahlkampfs ein Problem. Zumal Ex-Präsident Ma Ying-jeou in einem Interview gesagt hat, dass es Unsinn sei, wenn Taiwan zu viel in Verteidigung investiere, weil es eh keine Chance hätte. Daraufhin haben Hou und sein Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten ausdrücklich gesagt, dass sie diese Position nicht teilen. Einerseits plädieren beide für eine Wiederannäherung an China, andererseits laufen sie damit gleichzeitig Gefahr, als diejenigen wahrgenommen zu werden, die an etwas anknüpfen wollen, mit dem schon einmal ein Präsident gescheitert ist.

tagesschau.de: Es gibt ja noch einen dritten Kandidaten. Wo ist Ko Wen-je einzuordnen?

Klöter: Ko hatte auf kommunalpolitischer Ebene großen Erfolg, sich als "Newcomer" zu verkaufen, der das Lagerdenken zwischen der DPP und der KMT durchbricht. Er war Bürgermeister von Taipeh und versucht auch jetzt, sich als "dritte Option" zu verkaufen - keine Abschottung gegenüber Peking, aber auch keine Anbiederung. Außerdem hat er sich in wirtschaftlichen und sozialpolitischen Fragen als Kandidat für die jüngere Generation präsentiert, die sich wirtschaftlich abgehängt fühlt. Er ist schlagfertig, manche halten ihn aber auch für zu unseriös für ein Präsidentenamt und zu wankelmütig in seinen Äußerungen.

"Keine Bereitschaft, errungene Freiheit wieder aufzugeben"

tagesschau.de: Die einzige politische Lösung für Peking dürfte das Modell "Ein Land, zwei Systeme" sein. Wie schätzen Sie dazu die Haltung der Bevölkerung in Taiwan ein?

Klöter: Das würde von der Bevölkerung auf keinen Fall akzeptiert werden. Es hat in Taiwan seit Beginn der Demokratisierung Ende der 1990er-Jahre einen demografischen Wandel gegeben. Die wahlberechtigte Bevölkerung hat eine ganz andere Lebenserfahrung als die Generation derer, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges teilweise von China nach Taiwan geflohen sind. Auch das Beispiel Hongkong hat gelehrt, dass vom Modell "Ein Land, zwei Systeme" in der Praxis nichts bleibt. Deshalb gibt es in Taiwan keinerlei Bereitschaft, die mühsam errungene Freiheit und Demokratie zugunsten dieser Formel wieder aufzugeben.

"Eine durch und durch konsolidierte Demokratie"

tagesschau.de: Wir haben es in Taiwan mit einer funktionierenden Demokratie, mit einer Gewaltenteilung, mit unabhängigen Medien und mit regelmäßigen Machtwechseln zu tun. Haben Sie den Eindruck, dass der Westen und insbesondere die Europäische Union das genügend würdigt?

Klöter: Ich persönlich habe den Eindruck, dass das nicht der Fall ist. In den vergangenen Jahren und insbesondere seit der Pandemie wird gewiss wahrgenommen und häufiger erwähnt, dass es in Taiwan Freiheiten und Liberalisierungen gibt, die es in anderen Regionen Asiens nicht gibt. Taiwan ist eine durch und durch konsolidierte Demokratie. Es hat mehrfach friedliche Machtwechsel gegeben, es herrscht Religions- und Pressefreiheit. Damit widerlegt Taiwan erfolgreich das, was in der Volksrepublik China häufig gesagt wird, dass Demokratie und Freiheiten mit kulturellen chinesischen Wurzeln nicht vereinbar seien. Ich denke, dass das bei einer westlichen Beurteilung der Situation in Ostasien im breiteren Kontext und der Situation Taiwans im engeren Kontext mehr Würdigung erfahren könnte.

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de