Ein Plakat in Moskau (Russland) wirbt für die russische Armee mit dem Slogan "Du wirst beschützt"

Kriegspropaganda in Russland Die Methode "Raschismus"

Stand: 07.04.2022 03:44 Uhr

Seit dem Angriff auf die Ukraine ist die Kreml-Propaganda noch extremer geworden: Verschwörungsmythen und Dementi, Vergangenheit und Gegenwart, Nazi-Vokabular und sowjetische Denkmuster werden vermischt - mit üblen Folgen.

Von Aus dem ARD-Studio Moskau

Seit dem Einmarsch in die Ukraine wird Russland immer wieder mit Nazideutschland verglichen. Die Bombardierung von Wohnvierteln, Geburtskliniken und Krankenhäusern - all das ähnele in der Tat der Praxis der Nazis während des Zweiten Weltkriegs, sagt Jossip Zissels in Kiew am Telefon. Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden der Ukraine nennt dies deswegen: "Raschismus". Die Kombination aus dem Landesnamen und dem Wort Faschismus ist ein in der Ukraine weit verbreiteter Begriff, der auf die offizielle Kremlpropaganda anspielt. Diese gibt sich stets betont antifaschistisch und begründet den Angriff auf die Ukraine als Kampf gegen ein angeblich neonazistisches Regime.

Jossip Zissels

Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinden der Ukraine, Jossip Zissels.

Mit dem Krieg ist der Ton noch aggressiver, die Botschaft noch absurder geworden. Die Massentötungen von Zivilisten in Butscha und weitere mutmaßliche Kriegsverbrechen wurden umgehend als reine "Provokation ukrainischer Nazis" und "Fake News" des Westens abgetan. Unter anderem von Duma-Präsident Wjatscheslaw Wolodin, dem Putin-Vertrauten Dmitri Medwedjew und dem russischen UN-Botschafter Wassili Nebensja. In den Staatsmedien der gleiche Spin. Eine Moderatorin empörte sich, US-Präsident Joe Biden habe den russischen Präsidenten Putin zuvor einen "Butcher" - einen Metzger - genannt: der Zusammenhang mit dem ähnlich klingenden Ort Butscha sei kein Zufall. Die Liste solcher Beispiele ist lang.

Sammelsurium an Widersprüchen

"Die herrschende Ideologie ist ein Sammelsurium an Widersprüchen", sagt der Philologe Gassan Gussejnow. Er hat Russland 2019 verlassen und die "Freie Universität" mitgegründet - eine Online-Hochschule für Lehrende, Studierende, sowie Wissenschaftler, die Russland verlassen mussten. Der traditionelle Antifaschismus, so Gussejnow, sei reine Rhetorik, die sich hemmungslos nationalsozialistischer Stilelemente bediene. So spreche Moskau der Ukraine seit Jahren das Existenzrecht ab und diffamiere die Regierung als vom Westen protegiertes Nazi-Regime. Dieses begehe angeblich einen Völkermord an russischsprachigen Menschen in der Ukraine und müsse mit Gewalt vernichtet werden - so wie Hitlerdeutschland durch die siegreiche Rote Armee.

Der Rückgriff hat Methode: Die Behauptung, Nazismus in der Ukraine zu bekämpfen, habe sich in den Köpfen eingenistet und dient nach innen und nach außen als ultimative Begründung für den Einmarsch in das Nachbarland. Die heutige Ideologie bedient sich laut Gussenjow zugleich sowjetischer Traditionen. Etwa bei der Vorstellung, dass nicht die Demokratie, sondern die Einheit von Regierung, Bevölkerung und Armee wichtig sei. Kritiker und Kritikerinnen werden zum Beispiel als "Nationalverräter" diffamiert; als Gegner, die man wie Mücken ausspucken müsse - so fordert Präsident Wladimir Putin indirekt zum Vorgehen gegen Andersdenkende auf.

"Doppelte Vergiftung"

Auch Nazi-Vokabular werde bedenkenlos übernommen, sagt Gussejnow. Außenminister Sergej Lawrow sagte, Russland sei einem "totalen Krieg des Westens" ausgesetzt. Gleichzeitig wirft die russische Führung westlichen Staaten im Umgang mit Russland Nazi-Methoden vor. So verglich Präsident Putin die Absage von Auftritten russischer Künstler im Westen mit den Bücherverbrennungen. Eine solche Massenkampagne zur Vernichtung unerwünschter Literatur sei zuletzt vor fast 90 Jahren ausgeführt worden - von den Nazis in Deutschland, so Putin.

Die Folge ist eine doppelte Vergiftung, konstatiert Gassan Gussenjow - die sich etwa an einem besonders kruden antisemitischen Vorfall zeigte: Vor der Moskauer Wohnungstür des bekannten russischen Journalisten Alexej Wenediktow lag kürzlich ein Schweinekopf. An der Türe klebte das blau-gelbe ukrainische Staatswappen, quer darüber stand das Wort "Judensau" - auf Deutsch. Hier agitierte jemand gegen angebliche Nazis mit antijüdischer Hetze.  

Ein antisemitischer und anti-ukrainischer Aufkleber an der Wohnungstür des russischen Journalisten Alexei Wenediktow.

Anschlag auf die Wohnungstür des Journalisten Alexej Wenediktow: Mit antisemitischer Hetze wird hier gegen angebliche Neonazis agitiert.

Vergangenheit und Gegenwart werden vermischt

Dass der Krieg gegen die Ukraine "Spezialoperation" genannt werden muss, überrascht Gussenjow nicht. Auch die Sowjetunion habe offiziell nie Kriege geführt, sondern anderen Ländern immer nur "geholfen", angeblich um eine Rückkehr des Faschismus dort zu verhindern. So war das 1968 beim Einmarsch in die Tschechoslowakei oder 1979 auch in Afghanistan. Der sowjetische Antifaschismus sei noch von internationalen Parolen wie "die Menschheit steht hinter uns" flankiert gewesen. Dies sei im heutigen Russland nicht mehr der Fall. 

Vergangenheit und Gegenwart werden von der russischen Propaganda unterdessen weiterhin raffiniert vermischt. Der Krieg gegen die Ukraine tobt und am 9. Mai stehen die Feiern zum Ende des Zweiten Weltkriegs an. Auf harmonisch designten Werbetafeln heißt es nun: "Frühling - Der Tag des Sieges ist nah".

Ein Plakat in Moskau (Russland) wirbt für den "Tag des Sieges" am 9. Mai

Ein Plakat in Moskau verkündet: "Frühling - Der Tag des Sieges ist nah".

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 11. März 2022 um 06:50 Uhr.